Mit einem verstörenden sozialpsychologischen Experiment legt ZDF Neo die Mechanismen von Rassismus offen: Am Donnerstag läuft der Dokutainment-Film „Der Rassist in uns“.

Stuttgart - Stellen Sie sich vor, der Fernsehsender ZDF Neo lädt Sie zu einem Workshop über Anti-Rassismus ein. Sie sagen zu. Sie wollen sich gerade in die Teilnehmerliste eintragen, da faltet Sie ein Typ im schwarzen Anzug vor allen Leuten zusammen: „Kannst Du schon lesen? Lies vor, was steht da?“ Sie glauben, Ihren Augen nicht zu trauen. Auf dem Schild steht: „Kennst Du einen Blauäugigen, kennst Du alle.“ Wie würden Sie reagieren?

 

Es klingt wie ein schlechter Scherz – und in einem gewissen Sinne ist es das auch: Menschen mit blauen Augen, das lernen die Kandidaten eines neuen Formats von ZDF Neo, seien Menschen zweiter Klasse und auch als solche zu behandeln. Wie das geht, demonstriert der Leiter des Workshops eindrücklich. Ein eloquenter Riese im schwarzen Anzug. Er duzt die Teilnehmer. Er schnauzt sie ohne Anlass an. Und wenn sie sich wehren, setzt er sie vor die Tür.

Er, das ist Jürgen Schlicher, 47, Soziologe, Experte für interkulturelle Kommunikation. Für das neue Format spielt er ein Spiel mit den Kandidaten, aber das wissen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie ahnen nicht, dass sie als Probanden für ein Experiment herhalten müssen, das in den USA an Grundschülern erprobt worden ist. Die Lehrerin Jane Elliott hat es sich in den sechziger Jahren auf dem Höhepunkt der Rassentrennung ausgedacht. Eine Schocktherapie als Toleranz-Training für Kids aus der weißen Mittelschicht. Schlicher ist bei Jane Elliott in die Schule gegangen. Und wie sie teilt er seine Kandidaten in zwei Gruppen ein. Braunäugige werden hofiert, Blauäugige diskriminiert.

Experte für Dokutainment

In der Realität ist es oft umgekehrt. Asylsuchende in Deutschland klagen regelmäßig, man begegne ihnen nicht mit dem nötigen Respekt. Der Perspektivwechsel soll es den Teilnehmern des Experiments ermöglichen, sich in ihre Lage zu versetzen. Titel des Formats: „Der Rassist in uns.“

Patrick M. Sheedy hat diesen Film produziert. Viele haben seinen Namen schon mal gehört. 2013 hat der deutsch-amerikanische Regisseur B-Promis wie die Schauspielergattin Mirja DuMont für ZDF Neo auf ihrer Reise in die Dritte Welt begleitet. Sie sollten sich fühlen wie jemand, den niemand will. „Auf der Flucht“ hieß die Gratwanderung, die damals schon die Frage aufgeworfen hat, ob das Thema nicht zu komplex für ein TV-Format sei, das die Grenze zwischen Unterhaltung und Dokumentation verwischt. Von einer „Eventisierung“ der Flucht sprach die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Die Jury des Deutschen Fernsehpreises sah das anders. Sie verlieh Sheedy den Preis in der Kategorie Dokutainment: Ihm sei es gelungen, das Thema „Flucht und Asyl“ ins Dokutainment zu übersetzen.

Das gleiche kann man jetzt auch von der Inszenierung des so genannten Blue-Eyed-Experiments sagen. Es spielt mit Ängsten und Vorurteilen. Man bekommt eine Gänsehaut, wenn Jürgen Schlicher rassistische Stereotype auf den Kopf stellt, um beide Gruppen gegeneinander auszuspielen.

Geschockte Psychotherapeutin

Acht von vierzig Teilnehmern brechen das Experiment ab. Eine von ihnen ist Annette Kaiser-Thiede, 52, Psychotherapeutin. Dabei wird sie als Braunäugige in die privilegierte Gruppe eingeteilt. Im Film rutscht sie unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her, wenn Schlicher seine Thesen von der genetischen Überlegenheit der Dunkelhäutigen verkauft. Irgendwann hält sie es nicht mehr aus. Sie steht auf und verabschiedet sich mit den Worten: „Mir geht es Scheiße. Ich habe keine Lust, dieses Spiel mitzuspielen.“ Hinterher wird sie sagen, am meisten habe sie die mangelnde Solidarität der anderen Teilnehmer schockiert.

Ein Beispiel für Zivilcourage. So erscheint ihr Verhalten zumindest im Film. Doch heute ist sich die Hamburgerin nicht mehr sicher, ob es der richtige Weg ist. Sie sagt, man löse ein Problem nicht, indem man vor ihm weglaufe. Asylsuchende könnten das auch nicht. Was geht in diesen Menschen vor? Solche Fragen wirft der achtzigminütige Film auf. Er zeigt, wie die benachteiligten Blauäugigen aufbegehren – und die bevorzugte Mehrheit der Braunäugigen schweigt. Hinterher räumen zwei von ihnen ein, Schlicher habe sie so manipuliert, dass sie ihm beinahe geglaubt hätten. Eine beklemmende Analogie zur NS-Propaganda im Dritten Reich.

Schlicher hat das Experiment schon hunderte Male durchgespielt. Als Antirassismus-Trainer ist er sehr gefragt. Behörden, Schulen und große Unternehmen wie Ikea buchen ihn. Er soll ihren Mitarbeitern ein Bewusstsein dafür vermitteln, dass soziale Vielfalt ein Bonus ist, kein Malus.

Gesucht: die Willkommenskultur

Doch erreicht so ein Format ausgerechnet jene Stammtischbrüder, denen zur Fußball-WM schnell mal ein „Bimbo“ über die Lippen rutscht? Kann es Zuschauer tatsächlich ermutigen, den Blick auf Asylanten zu hinterfragen? Annette Kaiser-Thiede ist skeptisch. Die Psychotherapeutin sagt, nicht alle Teilnehmer hätten die brutalen Methoden des Experiments so gut weggesteckt. Und labilen Menschen würde sie die Teilnahme auch nicht empfehlen.

Jürgen Schlichter bleibt dabei. Er sagt, Aufklärung funktioniere nun mal langsam. „Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück.“ Den Film versteht er als Türöffner. „Deutschland braucht dringend eine Willkommenskultur.“ Immerhin: Ungehört verhallt sind seine Lektionen nicht. Schlicher sagt, nach der Veranstaltung in Hamburg habe er eine E-Mail eines Schülers erhalten: „Sie haben meinen Lehrer geschult. Danke.“