Schreiben bedeutet für Sie auch das Aufbewahren von Mentalitäten und Haltungen. Warum erscheint Ihnen das für den Ort, wo Sie groß geworden sind und Ihre Vorfahren ansässig waren, so wichtig?
Es scheint mir für Oberrot so wichtig wie für andere Orte. Das Dorf, das Waldtal, die Weiler auf den Hügeln – sie ergeben das Klima, das ich bisher zum Erzählen brauchte. Mentalitäten, wie ich sie dort erlebt habe – noch bäuerlich, stark religiös, also pietistisch geprägt, und lange abgeschnitten von größeren Zusammenhängen –, erscheinen mir so wichtig, weil sie nicht vergehen wie Ereignisse oder Zeiten, sondern weil sie sich ablagern und auf eine nicht leicht zu verstehende Weise prägend werden. Kommen neue Mentalitäten hinzu, verdrängen sie die alten nicht, sondern vermengen sich mit ihnen, zumindest für eine gewisse Dauer. Ich glaube aber auch, dass die letzten unverwechselbaren Winkel aus der heutigen Welt nahezu verschwunden sind und sich längst ein umfassenderer Raum aufgetan hat. Nach dem 20. Jahrhundert mit seinen ideologischen Verlockungen konnte man immer weniger von solchen Sondermentalitäten ausgehen, stattdessen hatten die jeweiligen Hauptströmungen sich durchgesetzt: Der Nationalsozialismus war überall im Land, ebenso der Kapitalismus. Gott sei Dank ist es inzwischen auch die Demokratie.
In Ihrem neuen Buch „Martha und ihre Söhne“ erzählen Sie von der Reeducation, der Erziehung der bei Kriegsende noch recht jungen Generation zur Demokratiefähigkeit. Was hat Sie zu diesem Thema gedrängt?
Gedrängt ist das richtige Wort! Diese Geschichte kommt, wie keine andere zuvor, tief aus mir selbst, auch das Düstere, Hoffnungslose und Hässliche, das zu ihr gehört. Dabei ist sie rein erfunden: Martha ist ein Kind der Diktatur, wurde ideologisch gedrillt und kennt kaum etwas anderes. Nach dem Krieg fürchtet sie die Rache der Sieger und legt sich schnell zwei Kinder zu, in der Hoffnung, dass man einer Mutter nichts tun wird. Martha weiß dann aber nicht so recht, wie sie ihre Kinder erziehen soll, denn fast ihr ganzes Wissen stammt noch aus der Diktatur und ist verbraucht, ja verboten. So hat sie ihren Söhnen nur wenig weiterzugeben. Mir ging es nun darum zu erzählen, was sie trotzdem vererbt und auf welche Weise: ihr verqueres, moralisch nie eindeutiges, noch immer stark autoritätsgestütztes, im Grunde brüchiges Weltbild. Ich sehe mich selbst als Marthas Sohn und wollte noch einmal frei und furchtlos auf die Elterngeneration schauen, die aus der Diktatur kam und mit oft nur langsam wachsender Überzeugung einen demokratischen Staat aufgebaut hat.