Vizekanzler Sigmar Gabriel hat sich die Zuspitzung in der Flüchtlingskrise nicht gewünscht. Aber er fürchtet sich auch nicht vor klaren Worten zur Asylpolitik. Er hat für seine Partei ein Thema entdeckt.

Ingelheim - Die Lage ist unübersichtlich im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Ingelheim. Schon wägen die Personenschützer ab, wann der Moment gekommen ist, Sigmar Gabriel aus dem Menschenpulk heraus zu holen, der den Vizekanzler umgibt. Ein Mann brüllt in brüchigem Englisch, sein Freund, dessen Unterschenkel im syrischen Bürgerkrieg amputiert werden musste, habe seit Tagen keinen Arzt gesehen – was der Leiter der Einrichtung bestreitet. Der SPD-Chef diskutiert derweil nur wenige Meter weiter in respektvollem Ton, aber hart in der Sache, mit albanischen Flüchtlingen. Er wolle „ehrlich mit ihnen umgehen“, sagt er. Deshalb werde er den jungen Männern auch nichts vormachen. Es müsse ihnen klar sein, dass sie das Land bald wieder verlassen müssen, sagt Gabriel, es sei denn, sie hätten einen unterschriebenen Arbeitsvertrag in der Tasche. Sie kämen in der Hoffnung auf „ein gutes Leben“, flöhen vor Korruption und Misswirtschaft, hätten all ihr Geld ausgegeben für die Fahrt nach Deutschland, hält ihm der Übersetzer der albanischen Flüchtlingsgruppe entgegen. Das, sagt Gabriel knapp, sei kein Asylgrund.

 

Es ist das fünfte Flüchtlingslager, das Gabriel besucht. Diesmal im Rahmen einer Sommerreise durch Rheinland-Pfalz. Seine innerparteilichen Kritiker mögen viel an ihm auszusetzen haben, aber eines können sie nicht behaupten: dass Gabriel nicht frühzeitig die Dimension des Problems erkannt und klar angesprochen hätte. Anders als Kanzlerin Angela Merkel, die zunächst sorgsam darauf bedacht war, den Konflikt von sich fern zu halten, ging Gabriel keiner Debatte aus dem Weg und suchte den Kontakt und die Auseinandersetzung mit jenen, die sich davon betroffen fühlen. Sein Besuch einer Diskussion mit Pegida-Sympathisanten Anfang des Jahres brachte ihm zwar in seiner Partei harsche Kritik ein, war aber zugleich Ausdruck seines unbedingten Willens, jene, die am rechten Rand noch ansprechbar sind, ins Lager der Vernunft zurück zu holen. Er ist überzeugt davon, dass man dem rechten Mob, diesem „Pack“, wie er die rechten Hetzer in Heidenau genannt hat, in die Karten spielt, wenn die Politik so tut, als seien alle Sorgen unberechtigt. Deshalb setzt er auf klare Worte.

Der SPD-Chef will deutlich mehr Geld für die Kommunen

Ingelheim ist nicht Heidenau, hier ist von rechter Hetze nichts zu spüren. Die Hilfsbereitschaft sei enorm, sagt Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), die Gabriel begleitet. Aber die Sorge ist groß, dass sich das auch hier ändern könnte, wenn die Politik nicht ihre Arbeit erledigt. Vor allem müssten die Verfahren drastisch verkürzt werden. In Ingelheim sind 400 Syrer und 380 Albaner untergebracht. Die Syrer erhalten Asyl, die Albaner nicht, man weiß das. Trotzdem vergehen noch immer Monate, bis die Verfahren beendet sind. Die Menschen, die in der Nachbarschaft der Lager leben, könnten das nicht verstehen, sagt Dreyer. Gabriel sieht das auch so.

Er will im Koalitionsausschuss am 6. September außerdem noch deutlich mehr Geld für die Städte und Gemeinden rausschlagen. Diese sollen nicht nur die Lasten der Unterbringung und Verpflegung schultern können, sondern auch weiterhin in der Lage sein, die Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung, etwa beim Wohnungsbau, zu berücksichtigen. Gelinge dies nicht, drohe die Hilfsbereitschaft zu enden, dann hätten Rechtsextreme freie Bahn.

Gabriel wirkt nach den Wirrungen erstaunlich gelassen

Gabriel hat sich die Zuspitzung der Lage in den Flüchtlingslagern nicht herbei gesehnt. Tatsache ist aber, dass sie dem SPD-Chef im innerparteilichen Streit über seine Führungsqualitäten und seine Eignung als Kanzlerkandidat nutzt. Nachdem er die rechtsextremen Hetzer von Heidenau als „Pack“ beschimpft hatte, haben außerhalb der SPD zwar manche die Nase gerümpft. Im eigenen Lager aber traf er den richtigen Ton. Als dann noch bekannt wurde, dass das Willy-Brandt-Haus mit wüsten Drohungen konfrontiert wurde, dürften sich die Reihen endgültig geschlossen haben. Nichts eint die deutsche Sozialdemokratie vor dem Hintergrund ihrer Geschichte mehr als Angriffe von Rechtsaußen.

Gabriel wirkt nach den Wirrungen des Sommers erstaunlich gelassen und aufgeräumt. Wie immer, wenn er ein Thema hat, an dem er seine schwer zu bändigende politische Energie abarbeiten und in große gesellschaftliche Projekte münden lassen kann. Er kann sich außerdem sicher sein, dass in der SPD derzeit niemand ernsthaft erwägt, ihm die Aufgabe abzunehmen, als Parteichef und Kanzlerkandidat Merkel herauszufordern. So groß die Unzufriedenheit mit ihm auch sein mag, so rar sind die Interessenten an Gabriels schwierigem Job. Also macht er weiter, mahnt seine Partei, weiter solide zu regieren, statt täglich neuen Streit vom Zaun zu brechen. Geduld soll die SPD haben, auf ihre Chance warten und sich auf die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im Frühjahr konzentrieren.