Am 21. Mai 1975 begann in Stuttgart-Stammheim der RAF-Prozess. Am Ende sprach Eberhard Foth das Urteil. Heute lebt der 84-Jährige in der Nähe von Karlsruhe und macht ein Sportabzeichen nach dem anderen. Eine Erinnerung.

Stuttgart/Karslruhe - Der Mann, um den es im Folgenden geht, muss viele Vorträge halten, und den letzten hat er mit dem Schlusswort gekrönt: „Man darf über alles reden, nur nicht länger als erträglich.“

 

Kürzer geht es allerdings auch nicht. Denn dafür war seine Vergangenheit zu bewegt. Jedenfalls bricht im Saal nie das große Gähnen aus, wenn er beispielsweise den Studenten an der Uni in Tübingen sein Leben erzählt, das nichts für Herzkranke und Schreckhafte ist. Aber auf der anderen Seite besitzt er auch einen lockeren Witz.

Manchmal schreibt er an seine Zeitung sogar schräge Leserbriefe, und der letzte, der ging so: „Sehr geehrter Herr Beck, könnten Sie nicht in eine Ihrer Glossen das  kürzlich ergangene Urteil jener Arbeitsrichterin einflechten, die befristete Arbeitsverträge für Profifußballer mit der Begründung ausschloss, diese könnten auch bis zur Pensionsgrenze Fußball spielen? Dieses Urteil, wäre es vor 30 oder 40 Jahren ergangen, hätte noch heute begrüßenswerte Folgen: Der VfB würde immer noch mit Hansi Müller, Buffy Ettmayer, Karl Allgöwer und den Förster-Brüdern auflaufen, hätte jahrzehntelang keine Ablösegelder für neue, teure Spieler zahlen müssen, und die Spiele selbst wären wegen des behutsameren Tempos von Zuschauern und insbesondere Schiedsrichtern besser zu verfolgen. Mit freundlichen Grüßen, Eberhard Foth.“

Eines ist da gleich klar: wer dieses Urteil „3Ca1197/14“ des Arbeitsgerichts Mainz kennt und dabei an das Wohl der Schiedsrichter denkt, war selbst Richter. Foth? Vorwärts und rückwärts habe ich kurz überlegt, bis die Eingebung mit dem Finger schnalzte. Wenig später sitzt er mir in seiner guten Stube nahe Karlsruhe gegenüber, serviert Zwetschgenkuchen und Kaffee. „Milch? Zucker?“, fragt Foth.

Der Richter im Betonbunker

Als wir das letzte Mal in einem gemeinsamen Raum saßen, war der Ton rauer und radikaler, und alles war karger und kahler. Ein Bunker. Acht Meter hohe Betonwände. Und ein Klima des kalten Hasses, zum Erfrieren. Vor vierzig Jahren, am 21. Mai 1975, begann in der Mehrzweckhalle neben dem Gelände der Justizvollzugsanstalt Stammheim der Prozess gegen die Anführer der Rote-Armee-Fraktion. Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe standen als Mörder, Bankräuber und Bombenzünder vor Gericht – und beim Betreten der Festung musste man an den Kontrollschleusen den Kugelschreiber abgeben, bekam dafür einen Bleistift. Für einen jungen Polizeireporter aus dem Remstal waren das heftige Eindrücke, aber im Schlepptau des Waiblinger Anwalts und Ensslin-Pflichtverteidigers Manfred Künzel fand ich den Weg in den Saal.

Und vorne, am Richtertisch, saß Dr. Eberhard Foth. Ehe er den Vorsitz übernahm, war er zunächst Beisitzer, aber die Stars im Saal waren vom ersten Tag an die, die in Handschellen kamen. Das ganze Land drehte sich um sie – „ob man im Laden einkaufte oder Straßenbahn fuhr, selbst wenn man sich in einer Schwimmbadkabine umkleidete“, sagt Foth, „immer ging es um die RAF“. Und er stand bald mittendrin. An der Front. Soldat Foth.

Für Baader & Co. war er der Feind von der anderen Feldpostnummer. Sie wähnten sich im Krieg, und Stammheim war das „politische Tribunal“. Für Otto Schily, den Kopf der Verteidigung, stand fest: „Das ist kein Strafverfahren, sondern eine politisch-militärische Auseinandersetzung.“ Der Staat, dem Schily später als Innenminister diente, war der Todfeind, und auch der Raspe-Verteidiger Rupert von Plottnitz, der spätere Justizminister in Hessen, rief gelegentlich hässlich hinüber zu Foths Vorgänger: „Heil, Dr. Prinzing!“

Baader brüllte „Nazischwein“

„Nazischwein!“, brüllte Baader. „Alte Sau!“, rief Ensslin. Einmal, aus dem Zeugenstand, sprang das RAF-Mitglied Klaus Jünschke dem Richter fulminant an die Gurgel. Nach dem 85. Befangenheitsantrag wurde Theodor Prinzing erlöst, Foth übernahm. Er wirkte gelassener. Vier Jahrzehnte später rührt er die Milch in den Kaffee und sagt: „Prinzing glaubte an das Gute im Menschen, dass man mit jedem, auch jedem Verteidiger, vernünftig reden könne.“ Und Sie? „Ich hielt es mit 1. Mose 6, 5: Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war . . .“ – . . . ließ er die Sintflut kommen? „. . . jedenfalls“, sagt Foth, „hat mich nichts mehr überrascht.“ Wenn etwa Professor Axel Azzola, der Meinhof-Anwalt, die Einstellung des Verfahrens und die Übernahme der Angeklagten in Kriegsgefangenschaft mit der Begründung beantragte, sie hätten bei ihrem militärischen Kampf nie gegen die Genfer Konvention verstoßen, biss er tapfer auf die Zähne. Nur einmal haute er mit der Faust auf den Tisch. „Was sind das für Manieren?“, fragte Schily.

Viel musste ertragen werden. Warum zieht sich der Rechtsstaat in die Zitadelle zurück, fragten kritische Rechtsprofessoren, warum kämpft er nicht offen? Foth schüttelt sich noch rückwirkend ob dieser praxisfernen Traumtänzerei: „Hatte die RAF uns nicht den Krieg erklärt? Sollten wir uns schutzlos wegbomben lassen? Eines wird mir ewig rätselhaft bleiben: dass so viele Intellektuelle, Schriftsteller oder Pfarrer sich vor den Karren der RAF spannen ließen.“

Seine Richterrobe trug er wie eine dicke Haut. 38 Ablehnungsanträge gegen sich hat Foth überstanden, die Störversuche der Sympathisanten im Saal, Andreas Baaders Gebrüll („Rattenhaufen!“) und dieses Verhandlungsklima, das ihm auf eine seiner Fragen die Antwort bescherte: „Mit Ihnen sprechen wir nicht, auf Sie schießen wir.“

„Ich weiß“, sagt er, „was Fouls sind.“ Holzereien halten nur Sportler aus, die topfit und gestählt für den Nahkampf sind, und Foth ist Sportler. Handballer war er, bei der TSG Balingen. Auf dem großen Feld wurde noch gespielt, damals in den 50ern in der obersten Liga der französischen Zone, und als berüchtigter Linkshänder hat er, er schwört jeden Eid, „viele Tore geschossen“. Und schnell war er, das ergab sich schon aus den Spurts, mit denen er montagmorgens zum Kiosk hechelte, um den „Grünen Sportbericht“ mit den Reportagen von Hans Blickensdörfer zu ergattern. „Bli war Pflicht“, sagt Foth.

Auch am 22. November 1950. Da fand in Stuttgart das erste Nachkriegsländerspiel statt, die Schweiz war der Gegner, und geschifft hat es wie aus Kübeln. Trotzdem quetschten sich 103 000 Zuschauer in das mit Stahlrohrtribünen erweiterte Neckarstadion, darunter der Student Foth aus Tübingen, knietief stand er in einem alten Militärmantel im Schlamm.

„Toni, du Fußballgott!“

„Alles war schön“, entsinnt er sich, „bis plötzlich von oben die Ränge mit den Zuschauern abrutschten und den unteren in den Rücken fielen. Es begann ein gewisser Kampf ums Dasein. Ich wurde gegen eine Abschrankung gedrückt und kam nur deshalb ungeschoren davon, weil mein Brustkasten offenbar härter war als die Geländerbefestigung. So hatte ich den Vorteil, zum Schluss unmittelbar am Spielfeld neben dem Tor zu stehen.“Genau gesagt neben Toni Turek – demselben Toni, der dann vier Jahre später beim Wunder von Bern den Radioreporter Herbert Zimmermann ins Mikrofon brüllen ließ: „Toni, du Fußballgott!“ Wer diesen Schrei heute kaufen will, muss Hans-Christian Ströbele fragen, denn der Bundestagsabgeordnete der Grünen besitzt die Rechte an der Reportage, er ist Zimmermanns Neffe. Womit wir wieder in Stammheim sind – und der Frage: Warum wurde Ströbele als damaliger RAF- und Baader-Anwalt vor dem Prozess ausgeschlossen und später zu einer Bewährungsstrafe verurteilt? „Wegen Missbrauchs der Verteidigerprivilegien“, sagt Foth.

Jede weitere Mutmaßung verträgt das Schnaufen nicht. Sicher ist nur: den Angeklagten wurde gelegentlich Verbotenes in die Zelle geschmuggelt, beispielsweise jene Aktenordner, den der RAF-Terrorist Volker Speitel so präpariert hatte, dass darin die Pistolen für Baader, Ensslin und Raspe versteckt werden konnten. Ensslin erhängte sich später, während sich Baader und Raspe erschossen. Offenbar hatte Speitel mit einem anderen Einsatz der Waffen gerechnet, denn als Foth in einem weiteren Prozess auch gegen ihn verhandelte, sagte er: „Ich hatte vermutet, dass sich Andreas und Gudrun überlegten, die Urteilsverkündung anders zu gestalten, als wie sie dann gelaufen ist.“ Foth: „Das hört man gern, wenn man selbst dieses Urteil verkündet hat.“

Die Bedrohung war fester Bestandteil seines Alltags, und gelegentlich kam auch ein Brief an die Frau mit der Bitte, sie möge sich anderntags „zwecks Verbrennung im Krematorium melden – aber trinken Sie vorher keinen Alkohol, wegen der Gefahr der Verpuffung“. Wie überstehen Körper und Geist so etwas? Diese Angst, diesen Krieg im Prozess, das nächtliche Aktenwälzen? Wie kriegt man den Kopf klar, wenn man abends zu Hause ist? „Sport“, sagt Foth.

Den hat er sich nie nehmen lassen. Waldläufe mit dem Polizeihund. Jiu-Jitsu. Fußball mit den Kindern im Garten damals in Stuttgart-Rohr. Fußball im Campingurlaub, Strandläufe. „Vierzig Meter hinter mir rannten die Polizisten. Und sie gingen mit zu meinen Skihochtouren.“ Bis hoch zum Mont Blanc. Zehn Viertausender hat Foth bezwungen, und in einer Prozesspause saß er am Gründonnerstag 1977 vor der Heidelberger Hütte im Silvretta-Gebirge, unerreichbar über Telefon oder Funk, als Gendarmen aufkreuzten und sagten: „Generalbundesanwalt Buback ist ermordet worden.“ Foth griff zu den Skiern, bereit zur überstürzten Abfahrt ins Tal, aber seine Leibwächter sagten „nicht ohne uns“ – denn im nahen Landeck waren bei einem Überfall Ausweise gestohlen worden, von denen einer beim RAF-Terroristen Rolf Clemens Wagner wieder auftauchte. Nur ein Skibob stand zur Verfügung. „Es folgte“, sagt Eberhard Foth, „eine mörderische Fahrt ins Tal.“

Foth steht im Abstiegskampf auf der Seite der Freiburger

Er lebt heute noch gut mit dem Sport. Er ist fitte 84, war im Winter wieder zur kühnen Skiabfahrt in den Dolomiten, außerdem sieht man ihm an, dass sein 49. Sportabzeichen nicht das letzte war. Und falls ihn das Oberlandesgericht Stuttgart wieder für einen Kick gegen die AH des Staatsministeriums anfordern sollte, läuft er seinem alten Lieblingsgegner Gerhard Mayer-Vorfelder, dem alten DFB- und VfB-Präsidenten, zweifellos noch mal den Ball ab wie früher. Aber am Samstag wünschen Sie dem VfB den Klassenerhalt? – „Nicht an vorderster Stelle. Stuttgarts Ex-Präsident Erwin Staudt sagte einmal: ,Der VfB ist neben der Oper, dem Ballett und der Bach-Akademie das höchste Kulturgut der Stadt.‘“ – „Das fanden Sie nicht gut?“ – „Ich mag die Freiburger“, sagt Foth, „sie sind bescheiden. Der Streich, ihr Trainer, übertreibt es fast. Ich würde ihren Erhalt begrüßen.“

In der „Sportschau“ wird er es am Samstag verfolgen. Wenn der Ball im Fernsehen rollt, genießt Eberhard Foth mit Bewunderung „die hohe Spielkultur und die grandiose Technik auf engstem Raum“, und wenn gleich zwei Bayern beim Elfmeter ausrutschen, schaut er sich das hinterher („das war einfach zu lustig“) noch ein paar Mal heimlich in der Mediathek an. „So“, sagt Foth, „und nachher radle ich noch auf dem Ergometer.“ In die Pedale wird er treten wie auf seiner 273-Kilometer-Gewalttour von Köln nach Speyer. Morgens um zehn ist es losgegangen, nachts um halb zwei war er da. Wer das hinkriegt, steht auch einen RAF-Prozess durch.

Am Ende des Verfahrens, nach zwei aufreibenden deutschen Jahren, sprach Dr. Eberhard Foth über die nach Ulrike Meinhofs Selbstmord verbliebenen Angeklagten sein Urteil: dreimal „lebenslänglich“ für sechs Bombenanschläge in Tateinheit mit 34 Mordversuchen und vier Morden. Danach wurde er für weitere Folgeprozesse gebraucht, ehe man ihn zum Bundesgerichtshof beförderte und in sein zweites Leben entließ – ohne Terroristen.

„Wirst du weiter beschützt?“, fragte ihn ein Bekannter. „Nein“, antwortete der Richter von Stammheim, „auf mich darf jetzt wieder geschossen werden.“