Darf der Regisseur Frank Castorf dem „Baal“ hinzufügen, was er will? Zusammen mit der Tochter von Bertolt Brecht will der Suhrkamp-Verlag die Münchner Aufführung verbieten lassen. Zum Theatertreffen ist sie trotzdem eingeladen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wenn – Betonung auf: wenn – im Mai in Berlin beim Theatertreffen Frank Castorfs Inszenierung von Bert Brechts Reißer „Baal“ zu sehen sein würde, könnten sich die Zuschauer in der Hauptstadt freuen. Weil: einen derart guten, laut-leise-lyrischen Castorf-Abend mit Brecht haben sie dort, obwohl (oder weil) Castorf immer noch die Volksbühne leitet, schon lange nicht mehr gehabt. Herausgekommen aber ist die Produktion Mitte Januar am Münchner Residenztheater, wo Castorf seit Jahren, sofern ihm das wesensmäßig möglich ist, relativ entspannt arbeitet. Gleichsam wie in der Sommerfrische. „Baal“ jedenfalls war zuletzt das Musterbeispiel eines Abends, der unmöglich vergessen werden kann. Man kam da raus, als ob man rundum mit Theater tätowiert worden sei und wunderte sich, keine Drachen oder Ähnliches auf seiner Haut zu finden. Castorf hatte Politik mit Brechts besten Mitteln gemacht. Und ein paar andere eigens anderswo entlehnt. Das wird gleich kurz nochmal darzustellen sein.

 

Zwei (!) Wochen nach der Premiere nun aber, wie gemeldet, Einspruch des Suhrkamp-Verlags, bei dem die Rechte liegen, und Lamento von Barbara Brecht-Schall, mittlerweile 85 Jahre alt, die „prinzipiell keine Hinzufügung in Papas Texten“ erlauben mag. Weglassen geht, Fortschreiben nicht. Sie brauche dafür, sagt die Tochter, die Inszenierungen nicht zu sehen, und verfährt also genauso wie ihre Mutter, Helene Weigel, die auch schon mal einen „Baal“ verboten hat, weil er angeblich nicht so war, wie er im Buche stand. Das war 1970, als Volker Schlöndorff mit dem damals bestmöglichen Baal überhaupt, Rainer Werner Fassbinder, einen Film gedreht hatte, der auch gesendet wurde. Aber nur einmal. Dann kam Weigels Veto. Zu sehen war, wie gesagt, der Baal der Baale: der prophetisch besetzte Fassbinder, ein Mann von eigenen Großgnaden, der dann wirklich die Welt und, grausamst mitunter, die Menschen auffressen wollte, um sich am Ende als grandioser Künstler selbst zu verzehren: ein geniales Monstrum.

Der Genussmensch im Vietnamkrieg

Nun kann es sein, dass die Angelegenheit Schall (bzw. Brecht-Erben GmbH) versus Castorf vor einem Münchner Gericht landet. Ebenso könnte es aber auch sein, dass Castorf sein Work in Progress, das jedenfalls bei der Premiere noch nicht ganz fertig war, ein wenig umfrisiert und anders tauft. So war es im Fall seiner vor fünfzehn Jahren herausgekommenen „Endstation Sehnsucht“-Collage, die ebenfalls Ärger hervorrief, damals bei den Erben von Tennessee Williams. Hernach hieß der Abend „Endstation Amerika“, was an Inhalt und Darstellungsweise der turbulenten Cowboy-Inszenierung aber auch nichts geändert hat.

Frau Schall – um auf Brecht zurückzukommen – beharrt auf einem Prinzip, das man im Zeitalter der mehr oder minder oft gesampelten Inszenierungen klassischer Stücke zumindest seltsam finden kann. Frank Castorf hingegen beharrt auf seiner Projektion. Die sieht, für dieses Mal – es gab wahrlich auch schon echte Katastrophen mit Castorf – so aus, dass Baal in München in den Vietnamkrieg geschickt wird. Vor Ort konfrontiert Castorf ihn mit Ansichten von Francis Ford Coppola und dessen Zusatzmaterial zum Film „Apocalypse Now“ sowie mit der Aussteiger- und Rebellionswelt der Achtundsechziger. Das hört sich nach wohlfeilem Assoziationsgeklingel an, war aber theatralisch von umwerfender Wucht.

Castorf nämlich rehabilitierte den Mythos (viel vernutztes Wort, aber hier grad recht) von Baal. Baal ist der Mann, den alles Bürgerliche, ja: ankotzt, weil er dahinter die Fratze der Ausbeuter sieht, die von Castorf wiederum mit Zusatzmitteln angemessen verzerrt wird. „Apocalypse now“ handelt nicht unwesentlich vom Kolonialismus und wie die Natur (des Menschen) dann eben doch zurückschlägt. Castorf zitiert noch Texte von Heiner Müller (Suhrkamp) und Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“, ebenfalls Suhrkamp). Gleichwohl oder eben deshalb ist mehr durchdeklinierter, also quer zur Zeit gebrachter Bertolt Brecht wohl selten in „Baal“ gewesen als jetzt in München.

Dreist und derb: der junge Brecht

Um zu dieser Erkenntnis und/oder fundiertem Widerspruch zu kommen, ist freilich ein Aufführungsbesuch unerlässlich. Immerhin wissen können hätten sowohl der Suhrkamp-Verlag wie auch Barbara Brecht-Schall, dass Frank Castorf gerne in dieser Vermengungsmanier verfährt. Schließlich inszeniert der Regisseur nicht zum ersten Mal, auch nicht zum ersten Mal Brecht. Was der Vertrag wert ist zwischen Bayerischem Staatsschauspiel und dem Verlag, das wird sich weisen müssen.

Man kann die Angelegenheit natürlich noch von einer zusätzlichen Warte aus betrachten. Auch andere Künstler-Erben (siehe die Schlemmer-Debatte in Stuttgart, siehe ebendort das umgetaufte Sean-O’Casey-Stück im Schauspielhaus) haben mal Probleme mit der heutigen Verwertung. Aber gerade bei Brecht nimmt es sich ein bisschen lächerlich aus, wenn auf absolute Werktreue gepocht wird, was in seinem Fall noch bis 2026 (siebzig Jahre nach seinem Tod) durchzusetzen ist.

Zum einen nämlich hat der Dramatiker auf dem Weg zu seinen Modellinszenierungen selber immer viel verworfen, umgeschrieben und geändert, und zwar bis zur letzten Sekunde. Dem „Baal“, uraufgeführt 1923, steht 1918 noch der Satz voran: „Er entstammt der Zeit, die dieses Stück aufführen wird.“ Brecht war jung, dreist und derb. Ende der zwanziger Jahre kommt der keineswegs erfolgreiche „Baal“ – ursprünglich eine Parodie auf Stücke des späteren Nazi-Hymnikers und Himmler-Freunds Hanns Johst – in die Theatermuseumskiste. Brecht frickelte privat weiter an dem Stoff herum, war sich aber, in der DDR zumal, zu asozial und nicht „weise“ genug gewesen, wenn er auf sein Jugendwerk zurückschaute.

Brecht, die Brasil und die Sache mit dem Eigentum

Als Bearbeiter seiner selbst und vor allem anderer Autoren war Brecht – bis hin zum Plündern - nun überhaupt nicht bang. Nicht von ungefähr bezeichnete der Kritiker Alfred Kerr Brecht bereits als „Ragoutkoch“, noch ehe er ihm nachwies, wo dieser seine Zutaten eingesammelt hatte: „Die Dreigroschenoper“, so Kerr, sei „ein Werk Brechts, das John Gay vor zweihundert Jahren schrieb“. Überdies hatte Brecht sich seinerzeit bei einem deutschen Villon-Übersetzer bedient, dessen Namen er verschwieg. Darauf aufmerksam gemacht, zog Brecht einmal an der Brasil und antwortete aufreizend lapidar, er erkläre hiermit seine „grundsätzliche Laxheit in Sachen Fragen geistigen Eigentums“. Das trug ihm zusätzlichen Spott ein. „Du warst nicht indisch, Johnny“, stellte Erich Kästner fest, der die Vorbilder Kipling, Rimbaud und Villon im „Surabaya-Johnny“ erkannt hatte. Er resümierte kühl und klar: „Kauft Kolonialwaren bei Bertolt Brecht!“ – und im wörtlichen wie im übertragenen Sinn hat Frank Castorf genau das getan. Sähe Bertolt Brecht seinen „Baal“ heute in München auf der Bühne oder beim Berliner Theatertreffen, und zwar, wie die Jury noch hofft, „ohne Einschränkungen“, würde er sich glatt wiedererkennen: ein echter Brecht. Für immer jung.