Mieter liegen häufig im Clinch mit ihren Vermietern. Ein Arbeitstag mit einem Rechtsberater vom Stuttgarter Mieterverein.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Noch stehen die blauen Polsterstühle verwaist auf dem zerkratzten Parkettboden. Die mannshohe Luftbildkarte an der Wartezimmerwand des Stuttgarter Mietervereins lässt erahnen, wie schwierig es ist, in dieser dicht bebauten Großstadt neuen Wohnraum zu schaffen, ohne Wälder und Wiesen zu opfern. Gegenüber sind Kopien von Zeitungsartikeln angepinnt. „Günstige Wohnungen: Oberbürgermeister Kuhn hängt Zielen hinterher“ oder „Stuttgart zieht Wohnungssuchende an“ lauten die Schlagzeilen. Daneben: Fotos aus dem vergangenen Jahr von einer Kundgebung, Demonstranten halten Plakate hoch. „Auf die Mietbremse treten“ oder „Spekulanten raus“ steht darauf geschrieben.

 

Die erste Klientin an diesem Tag ist Frau Schmidt*. Die Rentnerin humpelt auf einen Stock gestützt ins Wartezimmer. Sie redet sich sofort ihren Kummer von der Seele: Seit 1997 wohnt Frau Schmidt allein auf 50 Quadratmetern in Neugereut und zahlt, nachdem das 70er-Jahre-Gebäude kürzlich saniert wurde, 500 Euro warm. Um 45 Euro wurde die Miete vom Siedlungswerk vor wenigen Monaten erhöht, zum 1. Januar 2015 werden noch einmal 45 Euro hinzukommen. Wie soll sie das von 800 Euro Rente bezahlen? Und als wäre Frau Schmidts finanzielle Lage nicht schlimm genug, ist bei den Renovierungsarbeiten auch noch das Regenwasserrohr falsch verlegt worden: Nach jedem Unwetter ist ihr Balkon überschwemmt. Nun sucht sie in der Moserstraße 5 Hilfe, wie so oft in den vergangenen vier Jahrzehnten. „Früher konnte der Mieterverein viel für mich tun“, sagt sie. „Heute trauen die sich hier nichts mehr – wahrscheinlich, weil die Vermieter die besseren Anwälte haben.“

Nach dem VfB ist der Mieterverein der zweitgrößte Verein in Stuttgart. Zurzeit zählt er gut 30 000 Mitglieder, die im Normalfall 66 Euro Jahresbeitrag überweisen. Der Kern seiner Tätigkeit ist die Beratung der Klientel, die vom Chefarzt bis zum Hartz-IV-Empfänger reicht. Unter den 19 Festangestellten in der 1000 Quadratmeter großen Geschäftsstelle befinden sich sieben Juristen, daneben sind drei freie Architekten und ein freier Energieberater regelmäßig für den Verein tätig. All diese Spezialisten machen tagein, tagaus kaum etwas anderes, als sich mit dem deutschen Mietrecht und dessen Folgen für das Individuum und die Gesellschaft zu beschäftigen.

Der Nächste bitte!

Jens Rüggeberg, 56, kennt nach 22 Dienstjahren als Rechtsberater beim Stuttgarter Mieterverein nicht nur sämtliche einschlägigen Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, sondern auch alle möglichen technischen Feinheiten. In seinem aktuellen Fall geht es um eine sogenannte Einrohrheizung, wie sie in den 1970er Jahren nicht nur in den berüchtigten DDR-Plattenbauten installiert wurde, sondern auch in dem Acht-Familien-Haus in Korntal, in dem Herr Böhmer unterm Dach wohnt. Weil von dem Warmwasser, das das Rohr durchströmen soll, kaum etwas bei ihm oben ankommt, bleiben seine Heizkörper kalt. Herr Böhmer will nicht frieren, deshalb hat er drei Elektroradiatoren angeschafft. Ärgerlich ist, dass die Lowtechgeräte Unmengen Strom schlucken.

Rüggeberg hat in dieser Angelegenheit vor ein paar Wochen an den Hauseigentümer geschrieben, den Beamten-Wohnungsverein Stuttgart. Es gibt Vermieter, die solche Briefe ignorieren oder eingeschnappt reagieren und sich auf eine lange Auseinandersetzung einlassen, statt einen Kompromiss zu suchen. Und es gibt Vermieter wie den Beamten-Wohnungsverein, der sich sofort bereit erklärt, die Stromkosten von Herrn Böhmers Radiatoren zu übernehmen. Ist ja auch viel billiger, als im ganzen Haus eine neue Heizung einzubauen. „Ich wollte, es liefe immer so glatt“, sagt der Rechtsberater Jens Rüggeberg.

Der Nächste bitte. Herr Blank tritt ein, 82 Jahre alt, preußische Wurzeln und Stammkunde beim Mieterverein. Er wohnt seit mehr als drei Jahrzehnten im Stuttgarter Westen und sagt, dass er seine 58 Quadratmeter Altbau „mit Zähnen und Klauen verteidigt“. Einmal wollte ihn sein Vermieter rausschmeißen und selbst einziehen. Die Frage, ob die Eigenbedarfskündigung gültig ist, beantwortete das Stuttgarter Landgericht in zweiter Instanz mit Nein: Herr Blank sei ein Härtefall, gesundheitlich so sehr angeschlagen, dass man ihn unter keinen Umständen vor die Tür setzen dürfe. Nun verlangt der Wohnungseigentümer mehr Geld, und deshalb sitzt Herr Blank wieder bei seinem Rechtsberater: Die Kaltmiete soll von 480 auf 510 Euro angehoben werden. Ist das erlaubt?

Was ist eine Wohnlage mit Vorteilen?

Jens Rüggeberg holt eine grüne Broschüre mit dem Titel „Mietspiegel 2013/2014“ hervor und schlägt die Seite 9 auf. Unter der Überschrift „Wohnlagenkategorie“ sind dort jeweils fünf Lagenachteile und fünf Lagevorteile aufgelistet: „Eine Wohnlage mit Vorteilen ist anzunehmen, wenn die Zahl der Lagevorteile die der Lagenachteile um drei oder mehr übertrifft.“

Herrn Blanks Vermieter ist der Ansicht, dass dies auf seinen Immobilie im Stuttgarter Westen zutrifft. Doch das Gebiet ist dicht bebaut (Nachteil), es gibt viel Verkehr (weiterer Nachteil) und von einer offenen, ein- bis dreigeschossigen Bebauung (wäre ein Vorteil) kann auch keine Rede sein. Unterm Strich ergibt sich daraus eine durchschnittliche Lage und somit laut ortsüblicher Vergleichsmiete maximal 7,90 Euro pro Quadratmeter. Macht, wenn man auch noch die Ausstattung der Wohnung berücksichtigt, eine Monatskaltmiete von höchstens 491 Euro.

So wird es Rüggeberg dem Vermieter mitteilen. In bestem Juristendeutsch spricht er den Text des Anschreibens auf ein Diktiergerät, drückt die Stopptaste und fragt: „Ist das für Sie so in Ordnung?“ Herr Blank nickt. Sollte sein Vermieter den Vorschlag ablehnen, würde die Sache vor dem Amtsgericht landen. Es würde ein Sachverständiger eingeschaltet, dessen Gutachten würde etwa 1500 Euro kosten, und am Ende müsste die unterlegene Partei – im Fall von Herrn Blank der Mieterverein oder sein Vermieter – die Kosten des Verfahrens tragen. Nur bei etwa drei Prozent aller Streitigkeiten kommt es so weit, die allermeisten Fälle kann der Verein schiedlich-friedlich lösen. „Wir sind ja keine Prozesshansel“, sagt Jens Rüggeberg.

Die Gesetzeslage ändert sich ständig

In Deutschland gibt es seit der Weimarer Republik Mieterschutzgesetze. Sie ändern sich mit dem Zeitgeist. In den 1960er Jahren hat die schwarz-gelbe Bundesregierung unter dem Kanzler Ludwig Erhard das Gesetz zum Abbau der Wohnungszwangswirtschaft erlassen. Die Mieten sollten auf Marktniveau gebracht werden, wofür auch eine Änderungskündigung möglich war: Der Vermieter konnte kündigen, um einen neuen Vertrag mit demselben Mieter, jedoch mit einer höheren Miete abzuschließen. Mit dem Wohnraumkündigungsschutzgesetz des SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt etablierte sich in der Bundesrepublik wieder ein soziales Mietrecht. Unter Helmut Kohl erfolgte die erneute Umkehr: Sein Gesetz zur Erhöhung des Angebots von Mietwohnungen belohnte Großinvestoren und belastete die kleinen Leute.

Heute verlaufen die politischen Linien nicht mehr so klar. Das schwarz-rote Bundeskabinett stimmte in der vergangenen Woche einem Gesetz zu, das den finanziellen Spielraum von Immobilieneigentümern in „Kommunen mit angespanntem Wohnungsmarkt“ bei Neuvermietungen einschränken soll. Das CSU-geführte Bayern hatte bereits im Frühjahr eine effektivere Mietpreisbremse für 90 besonders begehrte Städte eingeführt. Hingegen diskutiert die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg noch immer, ob ein solcher Eingriff in die Marktwirtschaft die Schaffung von neuem Wohnraum womöglich zu ersticken drohe.

Derweil kaufen sich die Vermögenden in der Region Stuttgart teure Immobilien in begehrten Lagen, weil sie derzeit keine bessere Anlagemöglichkeit finden. Die Höchstpreise senken die moralische Schwelle, aus Mietern herauszuholen, was geht – sei es bei Neuvermietungen, nach einer Modernisierung oder durch eine Steigerung aufgrund des Mietspiegels, der aktuell bis 12,30 Euro pro Quadratmeter reicht. Für Miete gibt ein deutscher Durchschnittshaushalt schon heute doppelt so viel aus wie für Ernährung. Hinzu kommen die stetig steigenden Nebenkosten.

Hohe Nebenkostennachzahlung

Herr Reichert hat dem Berater Rüggeberg einen Stapel Unterlagen mitgebracht. Seit zehn Jahren lebe er mit seiner Familie in einer Vier-Zimmer-Wohnung in Möhringen, erzählt er. In diesem Zeitraum habe er niemals Nebenkosten nachzahlen müssen, und nun plötzlich würden für das vergangene Jahr 1700 Euro fällig. „Da kann doch etwas nicht stimmen!“

Jens Rüggeberg geht die Posten durch und kommt zu dem Schluss, dass eine neue Hausverwaltung dafür verantwortlich ist, dass die Betriebskosten explodiert sind: Treppenhausreinigung, Schneeräumen, die Pflege der Grünanlagen – alles ist um 20 bis 30 Prozent teurer geworden. „Hausverwalter ist kein Ausbildungsberuf, das kann jeder machen“, sagt Rüggeberg. „Und viele Eigentümergemeinschaften schauen bei steigenden Nebenkosten nicht so genau hin, weil sie ja wissen, dass die eh nicht von ihnen, sondern von den Mietern getragen werden.“

Muss Herr Reichert blechen, obwohl der Hausverwalter seinen gut honorierten Job keinesfalls mit schwäbischer Gründlichkeit erledigt hat? Der Rechtsberater empfiehlt, die Nebenkostennachzahlung „unter Rückforderungsvorbehalt“ zu leisten und darauf zu dringen, dass das verdreckte Treppenhaus tatsächlich geputzt und die Grünanlage vom Unkraut befreit werde. „Soll ich Ihrem Vermieter im Namen des Mietervereins schreiben?“, fragt er. „Oder wollen Sie lieber, dass ich etwas aufsetze, das Sie ihm dann unter Ihrem Namen schicken?“ Herr Reichert entscheidet sich für die zweite Variante. Sein Vermieter soll lieber nicht wissen, dass er sich von den Spezialisten beraten lässt: „Ich will ihn ja nicht verärgern.“