Auf dem Rössleweg kann man 56 Kilometer rund um den Stuttgarter Talkessel laufen. Unser Autor hat die Strecke an einem einzigen Tag zurückgelegt.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Stuttgart - Jede Herausforderung birgt das Scheitern in sich. Ich erzähle Wilhelm Mierendorf, dem Fotografen, der mich zur 56 Kilometer langen Tagestour rund um Stuttgart eingeladen hat, dass ich einmal „Das Handbuch des vollkommenen Scheiterns“ schreiben wollte. Während er mich im Wald am Start unterhalb des Stuttgarter Fernsehturms fotografiert, bedenkt er mich mit einem misstrauischen Blick. Was aus dem Handbuch geworden sei? Na ja, das Projekt scheiterte.

 

Steil herab geht der Rössleweg von der Waldau, der Heimstatt der Stuttgarter Kickers – Abstiege ist man hier ja gewöhnt. Nach der Waldebene Ost treten wir aus dem Wald heraus auf die Wangener Höhe. Wir bleiben stehen und schauen: Vom Mond ist ein verwaschener Fleck übrig geblieben, der über Sillenbuch und Rohracker steht. Aus der Sicht eines Wanderers sind es keine zwei Stadtteile in einem der großen Ballungsgebiete Europas, sondern lieblich an die Wälder geschmiegte Dörfer. Den Biergarten Onkel Otto, gibt es den noch? Ja, es gibt ihn noch.

Die Morgensonne schickt erste Lichtpfeile. Bei Kilometer neun steigen wir in das Neckartal ab, überqueren in Obertürkheim die Bahngleise, den Neckar und die B 10 durch den fast greifbaren bläulichen Widerstand der Abgase. Auf der anderen Talseite sehen wir wie durch trübe Plastikfolie auf den Neckarhafen hinab. Ein Kran surrt über einem Stapel Schiffscontainer, ein Zug rattert, ein unbestimmtes Brummen von Verkehr und Arbeit ist in der Luft, das Hintergrundrauschen einer Großstadt.

Eine positive Auswirkung der Trockenheit

Die Winzer in Untertürkheim schneiden die kleinen blauen Beeren an den Rebstöcken in große grüne Wannen. „Das ist unser Ausflugsberg“, sagt Karin Rebmann von der Weinmanufaktur Untertürkheim, „schön flach und mit dem Schlepper gut zu erreichen.“ Ich beiße in die volle Traube, wie es mich meine Großmutter gelehrt hat. „So schmeckt’s am besten“, meint auch Karin Rebmann, sie pflückt nur eine Beere ab und lässt die Traube dann in die Wanne sinken, es muss ja auch Wein gekeltert werden. Keine einzige faulige Beere ist dabei – die Trockenheit hatte auch etwas Gutes.

Den Weg rund um Stuttgart geht man normalerweise in mehreren Etappen. Er wurde von 1968 bis 1980 vom Schwäbischen Albverein und vom Verschönerungsverein Stuttgart angelegt. Er ist wie jeder Wanderweg: mal gut und mal schlecht markiert, am liedrigsten in Untertürkheim. Wir verlaufen uns unter der Grabkapelle bei Rotenberg. Die Hochhäuser von Fellbach zeigen die Richtung und dienen als Landmarke, hier wird die Strecke flach und ein wenig eintönig. Mädchen mit Hunden laufen herum, ein großer Gartenzwerg steht in einem Schrebergarten und eine noch größere VfB-Fahne. Wollte man beschreiben, was den Mittleren Neckarraum von allen anderen Räumen der Welt unterscheidet, dann wäre es das: die aufgelassenen Weinberge, die erst zu Streuobstwiesen wurden, dann zu Schrebergärten und nun vor sich hin verwildern vor dem Hintergrund hochaufschießender Fabrikbauten.

Bad Cannstatt: das Frühlicht, das unser Freund und Augentrost war, hat sich davongemacht und nur gleißende Helligkeit zurückgelassen. Der Hochbunker in der Zuckerbergstraße kommt in Sicht mit merkwürdig vermauerter Türe, ein Graffito zeigt Schemen mit weißen Stirnbinden. Ein Mann, der aussieht wie ein Harley-Fahrer, schuftet mit freiem Oberkörper im Garten. Bis zwölf Uhr haben wir etwa 25 Kilometer gemacht. Schon etwas müde trotte ich den Berg hinab zum Cannstatter Ruderclub. Die Gedanken verwirren sich. Sie kehren zum Begriff des Scheiterns zurück. Was passiert, wenn ein Scheitern vollkommen scheitert? Das Scheitern des Scheiterns müsste ja wohl das Gelingen bedeuten.

Vesperpause am Neckar

Unten am Neckar gibt es Käse aus dem Rucksack. Der Fluss biegt sich in einer großen Schlaufe um das Cannstatter Kraftwerk herum, als habe er Angst vor dem Blutsauger, der ihm das Wasser abzapft für seine Turbinen. Eine blaue Flasche dümpelt auf dem Wasser, zeigt, wie gering die Strömung ist. Das Lichtgeriesel auf dem Neckar vereinigt sich zu einer gleißenden Fläche, vor der sich Joggerinnen als Silhouetten abzeichnen. Ein Fischreiher steht rum wie in Kunstharz gegossen.

Durch sägende Baustellen ersteigen wir in schlauchartigem Gebüsch das andere Neckarufer. Um 14 Uhr stellt mein Körper auf Fettverbrennung um. Heftige Atemstöße lösen den verkrusteten Schleim der letzten zwanzig Erkältungen aus dem Lungenflügel. Ich würge mich auf den Schnarrenberg hoch, wo an der Wetterstation eine aufgeräumte Besuchergruppe steht und sich die Messapparate erklären lässt.

Ein Fremdkörper aus dem Kaiserreich zwischen hochgeschossenen Neubauten ist der Aussichtsturm am Burgholzhof. Davor vier Männer, die sich wie Seehunde auf eine Bank gezwängt haben. Die alten Kameraden sind aus Gammertingen zum Wandern nach Stuttgart gekommen. Verkehrte Welt, normalerweise fährt doch der Stuttgarter nach Gammertingen zum Wandern. „In dem Colafläschle ist mein Moscht drin“, erklärt einer die gelbe Flüssigkeit zu seinen Füßen. Die anderen trinken Wein.

Hier beim Aussichtsturm kann man die ganze 56 Kilometer lange Strecke sehen oder zumindest erahnen: die tausend Höhenmeter, die wir an diesem Tag bewältigen. Ich fühle mich wie ein Uhrzeiger, der auf zwölf steht und das ganze Ziffernblatt vor sich ausgebreitet sieht.

Eine Stadt mit vielen Welten

Wir steigen hinab nach Zuffenhausen, ein Stadtteil wie der Bodensatz eines Eimers. Ein zusammengeronnenes Konglomerat inmitten „lieblicher Traubenhügel“, wie Hölderlin die Weinberge genannt hat. Krähen flattern herum. Unter ihnen ein hupendes Staugeschiebe zum Pragsattel, Autohäuser und Fabriken, aber nur 150 Meter Luftlinie weiter stehen drei Pferde auf einer Koppel. Dazu Weinstöcke und eine milde Wärme, die sich wie ein dünnes Baumwolltuch auf die Schultern legt.

Wer den Rössleweg geht, wandert durch viele Welten, auch durch die sozialen Schichten von Stuttgart: die Reichen auf der Halbhöhe, die Armen in ihren Fabriksiedlungen. Wir unterqueren die B 27 und die Bahnlinie in einem uralten Tunnel, er wirkt wie der Eingang zur Unterwelt. In den Eisensparren nisten Tauben.

Nördlich von Feuerbach beginnt der Wald. Tröstlicher, stiller Wald. Er beruhigt die vom Verkehr überreizten Nerven, wir wandern schweigend. Wilhelm geht immer ein paar Meter voraus, ich merke, wie ich langsamer werde, konzentriere mich auf das nächste Ziel. In einer Stunde ist Rast.

Ein Bier im Lindental

Es ist drei Uhr am Nachmittag. Bier und zwei Kaffee kosten im Waldheim Lindental sechs Euro. Wir machen auf Gartenstühlen die Beine lang. Kinder rennen herum. „Mami, Mami“, ruft ein Mädchen, „jemand hat die Wolken gestohlen. Wir müssen sie suchen.“ Das Bier spült etwas Schmerz aus den Beinen. Nun zur Hohen Warte.

Bei Kilometer 38 brennen mir langsam die Fußsohlen. Wald, Wald, Wald, nur noch Wald. Über die Spazierwege wackeln tapfer alte Frauen – wie die Illustration von Herbst. Mit seltsam gespreizten Beinen steht ein Mann halb gebückt im Dickicht vor einem Bauwagen. Was macht denn der da am Rand der Großstadt? Er ist ein professioneller Maler vor seiner Staffelei. Ein Franzose, der nicht viel redet, damit keiner seine Pinselstriche stört.

Wir gehen in Richtung Kaltental, es dunkelt bereits. Stuttgart hat große Köpfe, denke ich, zum Beispiel den Birkenkopf, 511 Meter. Ich schleppe mich die Straße hoch, im Wald hat irgendjemand Bananen und eine Kokospalme gepflanzt.

Wir gehen nicht nur durch die sozialen Schichten Stuttgarts, sondern auch durch die Gesteinsschichten. Bereits in Untertürkheim hat ein Schild etwas von Keuper-Mergel erzählt, in der Schwälblesklinge, die zum Waldfriedhof führt, reden die Felsen selber. Ihre Trümmer liegen im Bach oder türmen sich am Wegrand auf, wo sie Buchen und Holunder tragen. Sie reden, so wie nur Steine reden können. Lautlos und dennoch unüberhörbar.

Der Kreis schließt sich

Zwei Kilometer weiter, vor dem Garnisonsschützenhaus auf der Dornhalde, spielt ein Mann Frisbee mit seinem Hund – genauer gesagt, mit einer Frisbee-Scheibe, die der Hund fangen muss. Die Dämmerung hat die Weinberge in glimmende Flauschhügel verwandelt. In Degerloch ist es dann schon Nacht, Straßenlampen ziehen uns vollends hoch zum Hospiz.

Am Fernsehturm schließt sich der Kreis, dort sind wir in den jungen Morgen gestürmt vor 13 Stunden. Was undenkbar schien, ist erst denkbar und dann wahr geworden. Welchen Sinn hat es, den Rössleweg an einem Tag zu machen? Man kann am nächsten Tag etwas anderes tun. Vielleicht ins Schwimmbad gehen oder so. Jetzt aber erst mal Spaghetti.