Am Freitag tagt der Rundfunkrat des SWR. Ein Wissenschaftler warnt indes den Sendersich zu sehr nach dem Durchschnittszuschauer zu richten. Diese Gruppe überaltere, sagt der Sozialforscher und empfiehlt, mehr auf Jüngere zu setzen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Wenn der Rundfunkrat des SWR an diesem Freitag in Baden-Baden tagt, geht es um ein „zentrales Zukunftsthema“: die Neuausrichtung des SWR-Fernsehens. Angesichts anhaltend mieser Marktanteile plant der Sender, wie berichtet, einen grundlegenden Umbau: Das künftige Programm ziele weiterhin auf die „Mitte der Gesellschaft“, heißt es in einem internen Papier, solle aber „jünger werden, ohne Ältere zu verlieren“.

 

Mitte der Gesellschaft, kurz MIG - das war schon der Titel des letzten Versuchs, mehr Zuschauer für das Dritte zu gewinnen. Gebracht hat das groß angelegte Projekt wenig, die Quoten blieben mau. Nach drei Jahren wurde es 2012 gleichwohl „in den Regelbetrieb überführt“, wie es im schönsten Bürokratendeutsch heißt. Nun dient es als Grundlage, um mit der nächsten Reform „die Position in der Mitte der Gesellschaft auszubauen“.

Die „Bibel“ für die Fernsehmacher

Was aber ist die MIG? Erläutert wird das in einem siebzigseitigen internen Papier („darf nicht an Dritte weitergegeben werden”), das gleichsam als Bibel für die Fernsehmacher dient. Gemeinsam mit dem Heidelberger Sinus-Institut beschreibt der SWR darin, wie man welche Zielgruppen erreicht – und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Drei Milieus bilden danach die Mitte der Gesellschaft: die Bürgerliche Mitte mit einem Anteil von 14 Prozent der Bevölkerung, das sozialökologische Milieu (sieben Prozent) und das adaptiv-pragmatische Milieu (neun Prozent).

Die Sozialökologen (Durchschnittsalter 48 Jahre) sehen weniger fern, aber wenn, dann gerne öffentlich-rechtlich, die Pragmatischen (36) präferieren private Programme und haben „den weitesten Weg zum SWR-Fernsehen“. Am wichtigsten sei die bürgerliche Mitte (52 Jahre), die viel fernsieht und meist öffentlich-rechtliche Kanäle einschaltet. In Stichworten wird sie so charakterisiert: mittlere Bildungsabschlüsse und Einkommen, kaum Akademiker, oft ältere Kinder im Haushalt. Die Mitglieder wollten „keine allzu großen Schritte ins Ungewisse“, sie bangten um das „ehemals behütete Leben des modernen Kleinbürgertums“ und würden teils „von massiven Abstiegsängsten geplagt“. Es gebe zwar einen gemeinsamen Kern aller drei Gruppen – etwa der hohe Stellenwert von Familie, die Präferenz für Pauschalreisen oder, beim Medienkonsum für „Traditionsmarken“ wie „Die Fallers“, „Tatort“ oder „Landesschau“. Doch das Fazit der Studie ist eindeutig: „Formate, die die bürgerliche Mitte . . . nicht in den Mittelpunkt stellen oder mindestens mit abholen, werden im Sinne der Strategie nur sehr begrenzt Erfolg bringen können – wenn überhaupt.”

Das Stammpublikum geht in Rente

Für den Sozialforscher Thomas Wind vom Heidelberger Institut für Zielgruppenkommunikation ist das ein riskanter Kurs. Schon wegen des hohen Altersdurchschnitts werde die bürgerliche Mitte in absehbarer Zeit „ein Senioren- und Rentner-Milieu sein“; neue Zuschauer wüchsen so nicht nach. Ein ganz auf sie zugeschnittenes Programm sei für die anderen Gruppen wenig attraktiv. „Alles, was vom ,Mittelmaß’ abweicht, wird tendenziell abgelehnt“, beschreibt Wind die bürgerliche Mitte; sie sei „das genaue Gegenteil von experimentierfreudig und hip“. Deshalb werde dieses Milieu bei der Entwicklung von Unternehmensstrategien „gerade nicht als primäre Zielgruppe in den Fokus genommen“. „Ein mittiges Profil erzeugt wenig Aufmerksamkeit und hat wenig Attraktivität“, warnt der Wissenschaftler den SWR.

Natürlich, so sein Rat, dürfe man das Stammpublikum nicht vergessen oder gar verprellen. Doch eine stärkere Ausrichtung auf die jüngeren Milieus der Mitte, die toleranter und weltoffener seien, goutiere am Ende auch die bürgerliche Mitte: Ihre Mitglieder suchten keine Marken oder Programme, „die ihnen einen - langweiligen - Spiegel ihrer selbst vorhalten“, sondern schätzten Angebote, die „das etwas Andere jenseits ihrer eigenen Lebenswelt“ zeigten. Wind formuliert diese Haltung so: „Ich will kein Fernsehen gucken, in dem ich mich nur selber sehe.“ Mal schauen, ob der Rundfunkrat diesen Denkanstoß aufgreift.