Er schaffte es vom Fensterputzer zum Immobilieninvestor und komponiert heute erfolgreich religiöse jüdische Musik. Martin Widerker über seine spannende Lebensgeschichte, die vor 80 Jahren in Tel Aviv begann.

Familie/Bildung/Soziales: Lisa Welzhofer (wel)

Stuttgart - Stuttgart-Mitte, ein gläsernes Bürogebäude, 4. Stock. Martin Widerker begrüßt den Besuch im Empfangsbereich der Widerker-Unternehmensgruppe, wo man die Wartezeit mit Wirtschaftszeitungen überbrücken kann – aber auch mit dem Katalog einer Kunstausstellung zum Thema Israel. Während des Gesprächs im Konferenzraum wird der 80-Jährige immer wieder in verschiedene Richtungen deuten. Nach Stuttgart-West, wo er als Fensterputzer angefangen hat. Richtung Hospitalviertel, wo die Israelitische Religionsgemeinschaft ihren Sitz hat, und über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus, Richtung Tel Aviv. Ein Gespräch über Immobilien, Schabbatlieder und seine lange Reise nach Stuttgart.

 
Herr Widerker, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich bin 1935 in Tel Aviv geboren. Als ich zwölf Jahre alt war, reisten meine Eltern und ich in den Schulferien nach Polen. Am Ende des Aufenthalts ließen uns die Kommunisten nicht mehr zurück. Erst 1958 konnten wir das Land Richtung Westdeutschland verlassen. Seither lebe ich in Stuttgart. Hier habe ich es vom Fensterputzer zum Immobilienunternehmer gebracht und war 40 Jahre in der Repräsentanz und im Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft aktiv. Seit ein paar Jahren komponiere ich außerdem religiöse jüdische Musik und habe damit vor allem in Israel großen Erfolg. So schließt sich der Kreis.
Lassen Sie uns am Anfang beginnen: Warum reiste Ihre Familie ins kommunistische Polen?
Meine Eltern waren galizische Juden aus Lemberg, das damals polnisch war. 1935 wanderten sie als Pioniere nach Palästina aus. Ihre Familien blieben in Polen, nur zwei von 32 Verwandten überlebten den Holocaust. Einer davon war der Bruder meines Vaters. Er war Kommunist und überlebte als Partisan in den Wäldern Polens. Ihn haben wir in Breslau nach dem Krieg besucht. Er hatte dort eine hohe Stellung.
Aus dem kurzen Besuch wurden zehn Jahre.
Da meine Eltern noch einen polnischen Pass hatten, verweigerten die Behörden die Ausreise. Ich habe in Breslau Abitur gemacht und mein Ingenieurstudium begonnen. Mein Onkel verschaffte uns ein gutes Leben. Mein Vater bekam eine Stelle als Direktor eines Großhandels für Baumaterialien, er hatte sogar einen Chauffeur. Wir gehörten sozusagen zur roten Bourgeoisie. Aber in den 50er Jahren gab es eine starke antisemitische Welle in Polen, mein Vater verlor seine Stelle. 1957 ergab sich dann die Gelegenheit, im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland auszureisen.
Warum sind Sie nach Stuttgart gegangen?
Die zweite Holocaust-Überlebende der Familie, die Schwester meiner Mutter, lebte hier. Sie hatte als Krankenschwester in einem Gefangenenlager ihren deutschen Mann kennengelernt und geheiratet.
Keine Bedenken? Ausgerechnet Deutschland!
Nein, ich war sogar die treibende Kraft dahinter. Die Technische Hochschule in Stuttgart war berühmt. Ich wollte dort studieren. Meine Eltern sind meiner Bitte gefolgt. Eigentlich war mein Plan, nach dem Studium nach Israel zurückzukehren. Aber dann ist mein Vater 1959 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich war plötzlich für meine Mutter und meinen zwölf Jahre jüngeren Bruder verantwortlich.
Was haben Sie gemacht?
Ich fing an, vor den Vorlesungen Fenster zu putzen. Ich fragte einfach in Geschäften nach, ob sie mich brauchen könnten. Mein erster Kunde war das Café Frank in der Silberburgstraße. Die Leute waren zufrieden und haben mich weiterempfohlen, einer dem anderen. Bald waren es so viele Aufträge, dass ich Kommilitonen beschäftigen musste. So habe ich nach und nach mein kaufmännisches Talent entdeckt. In den 60er Jahren wuchs mein kleines Gebäudereinigungsunternehmen rasant, irgendwann hatte ich 200 oder 300 Mitarbeiter. Das Studium musste ich nach dem Vordiplom aufgeben, weil keine Zeit mehr dafür war.
War es für die Menschen so kurz nach dem Krieg ein Thema, dass sie Jude sind?
Das habe ich nie gespürt. Vielmehr war es für meine Konkurrenten ein Problem, dass ich erfolgreich war. Das bekam ich bei meiner Meisterprüfung in Gebäudereinigung zu spüren. Die Prüfer waren Konkurrenzunternehmer, ich musste unglaubliche Dinge machen.
Zum Beispiel?
Sie stellten an der Nordseite des Bahnhofs eine Feuerleiter auf, und ich musste dann hinauf und die Bahnhofsuhr reinigen. Und in Zuffenhausen sollte ich an einem Hochhaus den senkrechten Schriftzug einer Apotheke putzen. Aber ich habe alles geschafft.
War Stuttgart ein gutes Pflaster für Gründer wie Sie?
Ich glaube, mein Erfolg lag eher an mir. Ich habe in den Anfangsjahren sehr viel gearbeitet, oft von 5 Uhr morgens bis 12 Uhr nachts. Ich suchte immer Herausforderungen, das macht mir bis heute Spaß. Zum Beispiel als Taucher und Tauchlehrer. Ich habe auch einen Flugschein gemacht, um schneller zu unseren Projekten in ganz Deutschland fliegen zu können. Heute fliege ich ein High-Performance- Turboprop-Aircraft mit acht Plätzen. Wenn es irgendwo ein Problem gibt, packe ich die Ingenieure ein und fliege hin.