Sozialkompetenz, das Wissen um ökologische und gesellschaftliche Zusammenhänge – all das lehrt uns die Natur. Wie das geht, zeigt ein Besuch im Waldkindergarten.

Stuttgart - Vincent hat ein Faible für Schnecken. Schon auf dem kurzen Weg von der Schutzhütte zum Lägerle des Waldkindergartens Rohr sammelt er vier der kleinen Schleimer. Das Wetter ist günstig für Schnecken. Am Vorabend hat ein ordentlicher Sommerregen dazu geführt, dass die Waldwege an diesem Vormittag mit großen Pfützen bedeckt sind, die Luft ist feucht, die Blätter tropfen vor Nässe. Die Truppe aus 14 Kindern und drei Erzieherinnen ist gut ausgestattet: Alle tragen Regen- oder Matschhosen, feste Schuhe und Anoraks, die Kinder haben außerdem ihre Vesperrucksäcke dabei. Zwei Zehn-Liter-Kanister mit Wasser und Spielmaterial befinden sich im Bollerwagen, den die Erzieherin Edith Weber und die Praktikantin Anja Hock in den Wald ziehen. Zwischen 8.15 und 8.30 Uhr haben die Mütter und Väter ihre Kinder an der Schutzhütte am Spielplatz beim Hagelsbrunnenweg in Dürrlewang abgeliefert. Die Erzieherin Andrea Enke-Zörlein setzt Häkchen auf der Liste – oder lässt die Kinder gleich selbst ein Kreuz machen, wenn sie „Frau Ö machen“. Die „Frau Ö“ ist eigentlich ein Hörfehler, denn „VÖ“ steht für verlängerte Öffnungszeiten. Die Kinder können bis 14.30 Uhr abgeholt werden. Heute entscheiden sich die meisten für die „mittlere Frau Ö“, also die Abholzeit zwischen 12.30 und 13 Uhr. Die Eltern sind im Waldkindergarten Rohr fester Bestandteil des Konzepts: sie sind in einem Trägerverein organisiert, springen im Bedarfsfall auch mal bei der Betreuung ein, und sie sind reihum für die Wasseranlieferung, für Wasch- und Putzdienste zuständig. Finanziert wird der Waldkindergarten von der Stadt Stuttgart sowie aus Eltern- und Mitgliedsbeiträgen.

 

Jetzt heißt es Aufbruch. Alle Kinder sind unternehmungslustig und fröhlich – kein Elternteil muss zum Trost mitkommen bis zur „Elterngrenze“ am Rand des Sportplatzes. Nach einigen Hundert Metern Weg hat die Tausendfüßler-Gruppe ihr Lager erreicht. Die im Kreis aufgestellten Baumstümpfe, die mit Schnüren versehenen Äste, an denen die Kinder ihre Rucksäcke aufhängen und das große Holzbrett als Werktisch wirken einladend – ein Naturraum, in dem man sich frei bewegen kann. Vincent bettet seine Schnecken auf ein großes Blatt, das er vorsichtig zwischen zwei Baumwurzeln ausgebreitet hat. Die übrigen Kinder schnappen sich ein Popokissen, wie die Kinder es nennen, als Unterlage auf den noch regenfeuchten Baumhockern, dann beginnt der Morgenkreis. Clara wünscht sich „Verkehrte Welt“, die Kinder stimmen über den Vorschlag ab. Eine Mehrheit ist ihrer Ansicht, also wird das Schlusslied am Anfang gesungen.

Ein Reh sorgt für kurze Ablenkung

In der „Rederunde“ darf jedes Kind Wünsche äußern: einen Tannenbaum zu Weihnachten, noch mehr Regen. Hinter den Bäumen taucht ein Reh auf und bringt kurze Ablenkung. Einige Regentropfen platschen auf die Köpfe der Kinder, doch das stört hier keinen. Für die Erzieherin Andrea Enke-Zörlein eine normale Situation: „Die Kinder machen die Erfahrung, dass man auch schlechtes Wetter aushalten kann, das ist für sie eigentlich nie ein Thema“, berichtet sie. Im Gegenteil: im Winter sei es auch mal kalt, dann müsse man sich mehr bewegen, aber es habe eben auch seinen Reiz, sich danach in der Hütte aufzuwärmen. Die Kinder seien in der Regel seltener krank, auch die kindergartenüblichen Infektionskrankheiten verbreiteten sich an der frischen Luft nicht so schnell.

Zum Konzept des Waldkindergartens gehört, dass die Bedürfnisse, Ideen und Fragen der Kinder im Vordergrund stehen, die Erzieherinnen begreifen sich als Begleiterinnen und Impulsgeberinnen. Die Kinder sollen die Möglichkeit haben, ihre Umwelt selbstständig zu erfahren. Orientierungshilfen erhalten sie nur, wenn sie nötig sind. „Im Wald muss das Kind für sich selbst tätig sein, es muss für seinen Körper Sorge tragen, damit es sich wohlfühlt“, so beschreibt es die Diplom-Wissenschaftlerin und Buchautorin Ingrid Miklitz. Sie ist die erste Vorsitzende des Landesverbandes der Natur- und Waldkindergärten und überzeugt davon, dass der Aufenthalt in geschlossenen Räumen immer auch eine „Verarmung“ bedeutet. Der Aufenthalt im Freien stärke dagegen die Resilienz, also die seelische Widerstandskraft der Kinder. Viele Handlungsabläufe prägten sich stärker ins Langzeitgedächtnis ein, weil die Waldkinder vielerlei Gerüchen, Farben und Geräuschen ausgesetzt seien. „Im geschlossenen Raum ist die Erzieherin immer die Wissende“, sagt Miklitz, sie kenne die Regeln, wisse, wie einzelne Spielzeuge funktionierten – und im Wald sei es eben anders.

Für die Kinder wirkt die natur wie ein zusätzlicher Erzieher

Diese Einschätzung bestätigt Karin Gimm vom Bundesverband der Natur- und Waldkindergarten in Deutschland. Gimm ist Erzieherin in Flensburg und erinnert sich noch gut an ihren ersten Arbeitstag, an dem sie im strömenden Regen leise Zweifel beschlichen. Sie bedauerte heimlich „die armen Kinder“, während die munter Regenflüsse stauten, in Bächen Dämme bauten und sich nicht um die Witterung scherten. „Wir haben den Vorteil, dass die Natur immer unser dritter Erzieher ist“, sagt sie heute. Dass das funktioniert, zeigt sich für sie an den positiven Rückmeldungen aus Schulen: Waldkindergartenkinder seien konzentrierter, könnten besser still sitzen und zeigten gutes Sozialverhalten.

Das mag daran liegen, dass die Natur den Kindern vieles bietet, aber eben kein vorgefertigtes Spielzeug. Matteo, der mit seinen gerade mal drei Jahren zu den Jüngsten im Waldkindergarten gehört, möchte einen Stock von seiner Rinde befreien, die Erzieherin Ulrike Trinkle unterstützt ihn. Die Regeln kennt er schon: das Schnitzmesser immer vom Körper weghalten! Die Rinde ist widerspenstig, aber der Blondschopf schafft es. Danach klettert er in die Mitte einer tiefer liegenden Astgabel und befindet sich plötzlich in einem Hubschrauber, mit dem er „einen Hai retten“ muss. Er verlässt seinen erhöhten Platz kurz, „weil ich meinen Helm vergessen habe“. Sobald er den imaginären Schutz auf dem Kopf hat, setzt er seinen imaginären Flug fort. „Die Kinder müssen ihre Fantasie einsetzen, und sie müssen kommunizieren, um eine Spielidee zu entwickeln“, sagt Andrea Enke-Zörlein. Oft entstünden deshalb Rollenspiele: die Tausendfüßler sind dann in einer Feuerwache unterwegs, in einer Holzwerkstatt oder im Indianerlager.

Beim Basteln wird auch das Material aus dem Wald genutzt

An diesem Vormittag haben die Erzieherinnen große Tonblöcke dabei, in konzentrierter Arbeit entstehen Hubschrauber, Schnecken, Frösche mit Eichelaugen – verwendet wird das Material, das sich im Wald findet. Pinkelpause ist vor dem Vesper, die Erzieherinnen schirmen die Kinder mit einem großen Tuch ab – Intimsphäre darf auch draußen sein. Rechtzeitig zur Pause um 10 Uhr dringen einige Sonnenstrahlen durch die Bäume, die Kinder stellen sich zum Händewaschen am großen Wasserkanister an, aus einem Baumwollbeutel gibt Ulrike Trinkle jedem ein frisches Handtuch zum Abtrocknen. Mit gewaschenen Händen und den Popokissen an Ort und Stelle packen die Kinder im Kreis ihre Brotdosen aus. Es beginnen die üblichen Tauschgeschäfte: Kirsche gegen Fruchtschnitte, ein Stück Pfannkuchenrolle mit Marmelade gegen ein Stück Maiswaffel. Vincents Schnecken haben sich mittlerweile am Baumstamm längst in unerreichbare Höhen vorgearbeitet. „Die sind echt schnell“, konstatiert er.

Cinzia nutzt die Zeit bis zum Aufräumen um kurz vor zwölf, denn sie geht nach den Ferien in die Schule und möchte bis dahin unbedingt ihren Tomahawk fertig haben, mit dessen Bau sie im Indianerprojekt für die Vorschulkinder begonnen hat. Der Stiel aus Haselnussholz ist sehr hart, doch das Mädchen arbeitet sich tapfer vor, um den Spalt für die Holzklinge breiter zu schnitzen. „Eins, zwei, drei, das Spielen ist vorbei. Vier fünf, sechs, aufgeräumt wird jetzt“ – der gemeinsam gesungene Vers ruft zur Rückkehr Richtung Schutzhütte. Fertig ist Cinzias Werkzeug zwar noch nicht, aber morgen ist ja auch noch ein Tag.Dass Kinder im Wald ruhig mit echten Werkzeugen arbeiten sollen, davon ist auch Eberhard Bolay, der pädagogische Leiter im Stuttgarter Haus des Waldes, überzeugt. „Kinder wollen lernen, man muss ihnen Vertrauen entgegenbringen, sie machen lassen und ihnen Erfolgserlebnisse ermöglichen“, sagt er. Nicht nur in diesem Punkt scheinen das Konzept des Waldkindergartens und die Grundsätze der Waldpädagogik ineinanderzugreifen. Das Angebot im Haus des Waldes richtet sich vornehmlich an junge Familien mit Kindern. „Wir können aber gar nicht alles abdecken“, sagt Bolay. Deshalb werden in dem lichtdurchfluteten Haus am Königsträßle auch Multiplikatoren geschult: die ein- bis dreitätigen, in Modulen aufeinander abgestimmten Seminare belegen Lehrer, Sozialpädagogen, Erzieher oder Forstleute. Und die Kursteilnehmer kommen nicht nur aus Baden-Württemberg, sondern auch aus Frankreich, der Schweiz, Luxemburg, Bayern und Hessen. Sie werden hier in den Stand gesetzt, Kurse anzubieten, wie sie sich auch im Jahresprogramm der Bildungseinrichtung finden. Sei es eine vogelkundliche Führung, Märchenwandern, die Herstellung von Kräuterkosmetik, ein Besuch in der Holzwerkstatt, eine GPS-Schnitzeljagd, oder Seilklettern, um nur einige zu nennen. „Der Wald an sich ist schon ein pädagogischer Raum“, erläutert Bolay. Deshalb sei es ein erklärtes Ziel, möglichst viel Bildung in den Wald zu holen. Und wenn Kinder und Jugendliche dann Schnitzen, Grünholzmöbel basteln, Arten bestimmen, ordnen, sortieren, vergleichen oder sich Gedanken darüber machen, wie man einen schweren Baumstamm am besten transportiert, dann wirkt laut Bolay schon das Ambiente an sich lehrreich. Gleichzeitig lernten die Kindern einerseits Respekt vor der Natur und erlebten andererseits, wie man die Wälder sinnvoll und naturnah nutzen kann. Schließlich sei Holz auch heute noch einer der wichtigsten Rohstoffe.

Im Haus des Waldes wird mit echten Werkzeugen gearbeitet

Lebhaft erinnert sich Bolay an die Begegnung mit zwei Grundschullehrerinnen, die nach einem Besuch im Haus des Waldes begeistert feststellten: „Eigentlich können wir doch fast alles im Wald lernen.“