Bisher unveröffentlichte Texte gewähren neue Einblicke in das Leben des schwäbischen Widerstandskämpfers Hans Scholl.

Stuttgart - Hans Scholl gilt, neben seiner Schwester Sophie, als Symbol des studentischen Widerstandes gegen Hitler. Während bei Sophie Scholl, die aus einer betont protestantischen Frömmigkeit heraus handelte, die religiösen Bezüge offensichtlich sind, war bei Hans Scholl lange umstritten, ob politische Grundüberzeugungen den Ausschlag gaben. Bei ihm kommt hinzu, dass er einen langen Weg voll innerer Kämpfe vom Fähnleinführer der Hitlerjugend zum Mitbegründer der „Weißen Rose“ zurücklegte. Vor allem der Prozess wegen Homosexualität vor einem NS-Sondergericht in Stuttgart führte zu einer existenziellen Erschütterung und zu einer verstärkten Suche nach religiösen Bindungen.

 

Eher durch Zufall wurde der in Norddeutschland lebende Pastor Robert M. Zoske auf den in München lagernden, 799 Bände umfassenden Nachlass von Inge Aicher-Scholl aufmerksam, der ältesten Schwester Hans Scholls. Zoske stieß auf das, was er einen „verborgenen Schatz“ nennt, auf Zeugnisse, die Scholl von einer bisher unbekannten Seite zeigen. In seiner umfangreichen, biografisch angelegten Dokumentation stellt Zoske auch die vielen Gedichte Scholls vor, von denen er meint, sie seien weniger Ausdruck poetischer Neigung als vielmehr Mittel zur Krisenbewältigung.

Dieser Weg lag nahe, denn Scholl war stark beeinflusst von den Gedichten Rainer Maria Rilkes und vor allem Stefan Georges. Er war ein empfindsamer junger Mann, der – darin sehr deutsch – zu romantisch-idealistischem Überschwang neigte. Auch beschäftigte er sich viel mit Philosophie, unter anderem mit Friedrich Nitzsche, aber die nüchternen Aufklärer blieben ihm fremd. Bezeichnenderweise urteilte er über Immanuel Kant: „Welch Übel Kant doch angerichtet hat mit seinem kategorischen Imperativ! Kant, Härte, Preußentum – der Tod jeden geistigen Lebens!“ Das war eine krasse Fehldeutung, aber so dachten im Deutschland von damals nicht nur junge Menschen.

1933 tritt er der Hitlerjugend bei

Scholls Elternhaus in Ulm war christlich geprägt, und so schloss er sich wie selbstverständlich dem Christlichen Verein junger Männer (CVJM) an, trat dann aber 1933 sofort der Hitlerjugend bei, denn den pseudo-religiös getönten Nationalsozialismus erlebte er als Aufbruch in neue Zeiten. Das Leitmotiv der Hitlerjugend von 1934 kam ihm, dem damals 16-Jährigen, entgegen: „Unsere Weltanschauung ist eine Sache des Herzens, uns ist das Gefühl mehr als der Verstand.“ Das Pimpfentum empfand er wohl als eine Art Fortsetzung der Jugendbewegung, Ausdruck bündischen Denkens.

Allerdings musste er in der NS-Organisation einen für ihn entscheidenden Mangel verspürt haben – das Recht auf Individualität. Deshalb trat er der elitär orientierten Gruppierung „Deutsche Autonome Jungenschaft“ bei, die der Stuttgarter Eberhard Koebel 1929 gegründet hatte. Dieser politische Wirrkopf mäanderte zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus, aber seine Gesinnungskonstante, ein Leben und Denken im Entweder-oder, dem Alles-oder-Nichts, bestärkte Scholl in seiner Neigung zum Elitär-Widerspenstigen. Bis zu seinem Prozess vor dem Stuttgarter Sondergericht sah Scholl keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen seinem Engagement bei der autonomen Jugendbewegung und der NS-Ideologie. Mit dem Gedanken, etwas Besonderes zu sein, setzte er sich aber von der braunen Massenbewegung ab: „Nicht von der Masse rede ich, sondern von einer Elite des Volkes, die für den geistigen Gehalt und die Richtung des ganzen Volkes verantwortlich ist.“

Dementsprechend war Scholl beeindruckt von der „Heldenfibel“, die Koebel 1933 veröffentlichte und in der er Heldenmut als unbedingte Hingabe bei der Durchsetzung einer Idee rühmte. Gerade im Krieg zeige sich, wer ein Held sei und wer nicht. Die Heldenfibel propagierte über weite Strecken jenen blinden Todesmut, dem später Millionen zum Opfer fielen. Zwar wuchs Scholls Distanz zu Koebel und seiner Organisation bis 1937, dem Jahr ihres Verbots, aber er blieb bei der Auffassung der Heldenfibel, dass Mut nicht gleich Mut und Tod nicht gleich Tod sei: „Nicht die Art des Todes entscheidet über seinen Wert, vielmehr ist bedeutsam, wofür jemand stirbt.“ Diese These sollte in Scholls Leben noch bedeutsam werden.

Der Bekenntnisbrief

Seit dem Herbst 1937 konnte Scholl das NS-Regime nicht länger nur von der idealistischen Seite sehen. Nachdem die Gestapo gegen ihn ermittelt hatte, wurde er im Dezember 1937 verhaftet unter dem Vorwurf, sich für die inzwischen verbotene bündische Jugend betätigt zu haben und – was weit schwerer wog – gemäß Paragraf 175 Unzucht mit Abhängigen begangen zu haben. Scholl war mittlerweile Soldat in der Cannstatter Reiterkaserne. Er war gern in der Armee und sah sich auf dem Weg zum Offizier. Jedenfalls ließ er sich in Stuttgart eine Offiziershose schneidern. Sie sollte 48 Reichsmark kosten, was damals viel Geld war. Der Vater musste aushelfen und erklärte die Hose zum Weihnachtsgeschenk.

Doch auch auf das Elternhaus war ein Schatten gefallen: die Gestapo hatte in der elterlichen Wohnung in Ulm eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Dass es um den Vorwurf der Homosexualität ging, erfuhr die Mutter allerdings erst aus einem Brief des Sohnes, in dem er ihr den Sachverhalt schilderte und vom „flackernden Auflohen einer jungen Seele“ schrieb. Die Mutter spürte, dass der Sohn in eine schwere seelische Krise geraten war und ermutigte ihn, Trost und Halt im christlichen Glauben zu finden. Daraus entwickelte sich bei Scholl der Kern widerständigen Handelns. Der Einfluss der Mutter wuchs in den nun kommenden schweren Monaten. Sie war eine schwäbische Pietistin, aber nicht von der sauertöpfischen Art, sondern fröhlich und menschenfreundlich.

Im Bekenntnisbrief an die Eltern hatte Scholl zugegeben, gegen den Paragrafen 175 verstoßen zu haben, als er 16 Jahre alt war. Er habe es, so sagte er später vor Gericht, „aus Liebe“ zu einem jüngeren Freund getan. Aber nun glaube er, sich „reinwaschen zu müssen“. Fortan wolle er arbeiten und nur noch arbeiten, weil er „etwas Großes“ leisten wolle für die Menschen. Der Offizierstraum war nun ausgeträumt, aber nach der Haftentlassung durfte Scholl zurückkehren in die Kaserne in Bad Cannstatt. Dort setzte sich sein Schwadronchef, Rittmeister Jörg Scupin, in außergewöhnlicher Weise für ihn ein, denn er hatte erkannt, wie tiefgreifend die Krise für Hans Scholl war.

Vorwurf der Unzucht

Bis zum Prozess lagen sieben traumatische Monate vor ihm. Hier begann seine endgültige Distanzierung vom NS-Staat. Dieser hatte eine Schwulenhatz begonnen und 1935 den Paragrafen 175 drastisch verschärft. Das waren keine guten Aussichten für den jungen Soldaten, und dies umso weniger, als er einer der ersten war, die vor dem neu gegründeten Stuttgarter Sondergericht angeklagt wurden. Diese Gerichte wurden geschaffen für weltanschaulich motivierte Strafprozesse und entsprechend den nationalsozialistischen Rechtsvorstellungen betrieben. Roland Freisler, der Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes, bezeichnete die Sondergerichte als „Panzertruppe der Justiz“.

Zum Vorsitzenden des Stuttgarter Gerichts wurde der erst 38-jährige Stuttgarter Jurist Hermann Albert Cuhorst ernannt. Diese Blitzkarriere kam nicht von ungefähr. Er war ein begeisterter Anhänger der braunen Ideologie und wurde im Gerichtssaal bekannt durch Aussprüche wie „Jawohl, ich habe die Macht, und ich werde sie auszunutzen wissen!“ Alles in allem kein gutes Omen für den Angeklagten Scholl. Doch Cuhorst war auch für seine Launenhaftigkeit bekannt, die sich zu Gunsten eines Angeklagten auswirken konnte. Jedenfalls scheint ihn Scholl, der in der Uniform eines Offiziersanwärters der Kavallerie auftrat, beeindruckt zu haben. Zudem gab Scholl im Prozess an, im Jungvolk seinen Dienst als Fähnleinführer getan zu haben bis zu seinem Eintritt in den Reichsarbeitsdienst an Ostern 1937. Das registrierte der NS-Richter mit Wohlwollen.

Zwar bekannte sich Scholl zweier Rechtsverstöße schuldig, aber den Vorwurf, sich in einer bündischen Jugendgruppe betätigt zu haben, ließ das Gericht fallen, weil die Organisation erst kurz zuvor verboten worden sei. Selbst den Vorwurf der Unzucht beurteilte das Gericht eher milde, es war sogar von einer „jugendlichen Verirrung“ die Rede. Auch habe der Angeklagte die Verwerflichkeit seines Tuns eingesehen und der Homosexualität abgeschworen. Das Gericht erkannte auf eine so geringe Strafe, dass sie unter das Amnestiegesetz vom April 1938 fallen konnte, das bei Verurteilungen von höchstens einem Monat von Strafe freistellte.

Prozess des Umdenkens

Scholl war noch einmal davongekommen, erkannte aber, dass dieses System ihn zwang, sich zu „verbiegen“ und ihn daran hinderte, „aufrecht bleiben“ zu können. Entsprechend kritisch sah er nun die sogenannte Fritsch-Affäre. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Werner von Fritsch, lehnte die Kriegspläne Hitlers ab. Daraufhin wurde er der Homosexualität bezichtigt und entlassen. Scholl zeigte Mitgefühl für den zu Unrecht beschuldigten General. Einmal in Gang gekommen, setzte sich bei Scholl der Prozess des Umdenkens fort. Nun fragte er sich, ob ein Krieg moralisch überhaupt zu rechtfertigen sei. Die Begeisterung, die der Anschluss Österreichs an das Reich auslöste, vermochte er nicht zu teilen. Hitler wurde für ihn zum gefährlichen Trugbild. Als der Diktator 1938 Stuttgart besuchte, musste Scholls Schwadron die Ehrenformation stellen. Dabei fiel ihm das „schemenhafte Gesicht“ Hitlers auf. Wie sich aus anderen Zusammenhängen ergibt, hatte das Wort „Schemen“ für Scholl eine abfällig-verächtliche Bedeutung.

Im Sommer 1939 nahm Scholl sein Medizinstudium in München auf. Als Soldat gehörte er der Studentenkompanie an, deren Angehörige in den Semesterferien Lazarettdienste an den Fronten zu verrichten hatten. Hier lernte Scholl seinen späteren Vertrauten Alexander Schmorell kennen, der ihn als „zurückgezogenen einsamen Menschen“ schilderte. An seine Stuttgarter Freundin Rose Nägele schrieb Scholl: „Nur wenige sollen meine Freunde sein.“ Immer deutlicher wurde seine Hinwendung zum christlichen Glauben in einem geradezu existenziellen Sinne: „Die einzig helle Stelle, die uns geblieben ist: Christus. Unser ganzer Hintergrund und Wegweiser ist Er.“ Ohne es zu wissen, rückte ihn diese Auffassung in die Nähe Dietrich Bonhoeffers.

Aus Lese- und Diskussionsabenden mit Gleichgesinnten entwickelte sich die Kerngruppe der Weißen Rose. Das war auch eine Art Gegenreaktion, denn die Studentenkompanie stand unter starkem Druck der NS-Kräfte. Da man regelmäßig den Deutschen Dienst von BBC London abhörte, erfuhr man von den Massenverbrechen im Osten. Man lauschte Thomas Mann, der in seinen Ansprachen die Deutschen aufforderte, sich aus eigener Kraft des NS-Regimes zu entledigen. Scholl sagte: „Der heutige Staat ist kein richtiger, sondern ein Staat von Verbrechern.“

Was war dagegen zu tun? Im Kreise der Gleichgesinnten wuchs die Einsicht: „Diskussionen verändern nichts.“ Ostern 1942 fasste man publizistische Aktionen ins Auge mit dem Ziel, das Informationsmonopol der Nazis zu brechen. Man wollte eine Art Gegenöffentlichkeit herstellen, den „Mantel der Gleichgültigkeit“ durchstoßen, wie es später in einem Flugblatt vom Januar 1943 hieß.

Noch bevor Scholl und Schmorell an die Ostfront fuhren, einigten sie sich darauf, Flugblätter herzustellen und an ausgewählte Adressaten zu verteilen. Um weitere Aktionen finanzieren zu können, baten sie den Stuttgarter Buchprüfer Eugen Grimminger, einen Geschäftsfreund von Hans Scholls Vater, erfolgreich um Geld. Er, Grimminger, wurde damit zum Finanzier der Widerstandsgruppe Weiße Rose.

Der Opfertod

Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion schrieb Scholl an seine Freundin Rose Nägele, die Widerstandsarbeit sei für ihn die Erfüllung einer „heiligen Mission“. Im Osten hatte er viel über die Gewaltverbrechen an Juden erfahren! „Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann.“ Nach der Zerschlagung des NS-Regimes liege die Zukunft Deutschlands darin, Teil einer „Welt-Zivilisation“ zu sein.

Hans Scholl wusste, worauf er sich einließ. Der Glaube, so reflektierte er, verleihe Mut bis zum Martyrium, rechtfertige sogar den Opfertod. Im letzten Flugblatt, das sich nicht mehr nur an die Eliten wandte, hieß es: „Der deutsche Name bleibt auf immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend aufsteht, seine Peiniger zerschmettert und ein neues, geistiges Europa aufrichtet.“ Weil aber Reaktionen ausblieben, wurden die Widerständler immer mutiger, aber auch leichtsinniger. Nach einer Aktion in der Münchner Universität wurden Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 verhaftet, wenige Tage später von Freislers Volksgerichthof zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet.