Unser Reporter Martin Tschepe radelt den Mauerradweg entlang. Auf seiner zweiten Etappe stößt er auf Reste der alten DDR, sieht wunderbare Landschaften und lernt viele winzige Orte mit ulkigen Namen kennen.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Boizenburg - Eine kurze Rast am Stadtrand von Lübeck, erst seit einer Stunde sitze ich auf dem Rad. Plötzlich legt ein entgegenkommender Biker eine Vollbremsung hin - und erkundigt sich nach meinem ungewöhnlichen Rad. Das knallgelbe Transportmittel fällt eben auf.

 

Wenig später erzählt der pensionierte Postler, Jahrgang 1952, auf Nachfrage von früher, er hört gar nicht mehr auf mit den alten Geschichten. Berichtet, dass er direkt an der Grenze aufgewachsen sei, in Eicholz, einem Nest östlich von Lübeck. 1989, als die Mauer fiel, habe er in Berlin gearbeitet, aber seit 1991 sei er wieder zurück in Lübeck. Heute, sagt er, sei alles besser als zu Zeiten der Teilung. Er fahre gerne nach Mecklenburg-Vorpommern, die Landschaft genießen, die „tollen Wälder“. Und überhaupt: „Alle zahlen den Soli, auch die Deutschen im Osten.“

Wenig später in Einholz das Kontrastprogramm: Der Busfahrer, der am Straßenrand eine kurze Pause macht, sagt: Ohne die Vereinigung „hätte der Westen mehr Geld.“ Grinst und steigt wieder auf seinen Platz hinter dem Steuerrad.

Dann die Landesgrenze. Schleswig-Holstein endet, Mecklenburg-Vorpommern beginnt. Das sieht man, immer noch. Immer wieder Kopfsteinpflaster in den Ortsmitten. Schmucke Bauten aber auch alte, graue DDR-Häuser. Eine Postbotin in Herrnburg erzählt, dass sie rübergemacht hat - in die andere Richtung als viele Menschen unmittelbar nach 1989. „Wegen der Kinder, die waren krank, die Luft ist hier einfach besser.“ Kein schlechtes Argument.

So schön ist Mecklenburg

Tatsächlich, Mecklenburg ist so, wie der pensionierte Postler gesagt hat: grandiose Landschaft, Wälder, Wiesen, Felder - und immer wieder Seen. Vorbei am Ratzeburger See - dann ein Halt in Schlagsdorf. Spötter würden vermutlich sagen: der Name war wohl Programm. Das Nest liegt auf der Ostseite direkt an der alten Grenze. Den kleinen Mechower See konnten die Menschen zwar sehen, drinnen baden durften sie nicht. Fluchtgefahr.

In Schlagsdorf gibt es seit 1999 das Grenzhus, ein Museum, das vom Leben an der innerdeutschen Grenze erzählt. Es gehört zu den Informationszentren des Biosphärenbands Elbe Schaalsee. Die Region um den Schaalsee ist seit dem Jahr 2000 ein von der Unesco anerkanntes Biosphärenreservat. Viele Touristen kommen her. Ein paar hundert Meter entfernt von der Ausstellung werden auf einer Wiese Mauerrest, Stacheldraht und ein alter Grenzturm gezeigt. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die Schicksale von Menschen - Mitgefühl beim Verlassen der Räume.

Wenig später das geschleifte Dorf Lankow, es musste 1979 dem Bau der Grenzanlagen weichen. Ein Gedenkstein erinnert an die verrückte Aktion zehn Jahre vor dem Mauerfall.

Winzige Orte mit ulkigen Namen

In der ehemaligen DDR gibt es ungezählte winzige Orte mit ulkigen Namen, jedenfalls für schwäbische Ohren: Groß Thurow, Kneese Dorf, Techin, Boissow. Fast alle sind menschenleer. Der Besucher fragt sich: Wer wohnt hier? Was tun die Menschen? In Lassahn kehrt eine ältere Frau den Gehsteig vor ihrem Haus. Sie sei die Frau des Pastors, des eigentlich pensionierten Pastors, der im Ort aber ehrenamtlich die Gottesdienste hält. Die Frage „Es ist doch arg beschaulich hier, oder?“, kontert sie keck: „Beschaulich ist es bei meiner Tochter, die lebt in Grönland.“ Einen Laden gebe es im Dorf aber nicht, viele Bewohner pendelten zur Arbeit, bis nach Hamburg.

Kurzer Stopp in Lauenburg - der Ort hat unter Radfahrern Schlagzeilen gemacht, wegen der Gründung der Fahrradinitiative Berlin- Lauenburg im Jahr 1979. Biker mussten die Transitstrecke von Berlin nach Westdeutschland am Stück fahren, denn übernachten in der DDR war tabu. Also beschlossen ein paar begeisterte Radler, früh morgens gegen 4 Uhr an der Grenzkontrollstation Staaken zu starten, sie erreichten nach rund 220 Kilometern und gut 15 Stunden Lauenburg im Westen. Die Aktion wurde zum Renner.

Ende der Mittwochsetappe in Boizenburg. In den Straßen ist nicht übermäßig viel los, aber die Pensionen sind fast alle voll belegt. „Schon seit Wochen“, sagt eine Vermieterin und guckt ganz zufrieden. In erster Linie Radfahrer und Arbeiter steigen in Boizenburg ab. Und an diesem Tag auch ein Redakteur der Stuttgarter Zeitung.