Vor 25 Jahren wurde die deutsche Einheit besiegelt –und damit Deutschlands neue Rolle in der Weltpolitik. Die Bürger sehen diese skeptisch, bis heute. Aber die Bundesrepublik muss ihrer gewachsenen Bedeutung entsprechen.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Die Deutschen machen in diesen Wochen einen schnellen Imagewechsel durch. In der Griechenland-Krise sind sie die kaltherzigen, auf Regeln pochenden, nur am eigenen wirtschaftlichen Vorteil interessierten Ekel-Europäer. In der Flüchtlingskrise verwandeln sie sich plötzlich zu fremdenfreundlichen, gefühligen und freigiebigen Mustermenschen – ein Vorbild für die ganze Welt.

 

Es sind Zuspitzungen, die mit der nuancenreichen Wirklichkeit wenig gemein haben. Aber sie führen zu einer schlichten, doch folgenreichen Erkenntnis: Was Deutschland tut, lässt keinen unberührt in Europa. Entscheidungen in Berlin polarisieren, zum Guten wie zum Schlechten. Ob Deutschland vorprescht oder sich zurückhält, beides entfaltet Wirkung. Es löst Hoffnungen aus auf deutsche Führung in eine gute Richtung, aber genauso Ängste vor deutscher Dominanz.

Der 3. Oktober 2015 gibt guten Anlass, darüber nachzusinnen, wie dramatisch sich Deutschlands Rolle in der Welt – und damit auch Deutschlands Außenpolitik – in den vergangenen 25 Jahren verändert hat. Denn die Wiedervereinigung hatte nicht nur eine innerdeutsche Dimension, mussten doch fortan die Deutschen (West) mit den Deutschen (Ost) ein verträgliches Miteinander finden. Der 3. Oktober 1990 hatte gleichzeitig eine globale Dimension: er markierte das Ende einer weltumspannenden Ordnung, die sich nach der Zerschlagung des Deutschen Reiches 1945 herausgebildet hatte. Der Kalte Krieg, die Konfrontation zwischen Nato und Warschauer Pakt, war zu Ende. Damit änderte sich auch die geopolitische Verortung Deutschlands.

Wegducken ging nach 1990 nicht mehr

Mit dem Vereinigungstag, genauer: mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag, der wenige Wochen vorher zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs geschlossen wurde, änderten sich die Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik fundamental. Die Bundesrepublik – von vielen im Ausland angesichts historischer Schuld immer noch misstrauisch beäugt – gewann über Nacht die volle außenpolitische Souveränität. Deutschland war nicht mehr in zwei Frontstaaten geteilt, sondern es lag nun wiedervereint mitten im Zentrum eines Europas, das ebenfalls daranging, ein neues Miteinander zu finden.

Zwischen 1945 und 1990 hatte sich die Bundesrepublik, wie der Regensburger Historiker Stephan Bierling treffend analysiert, unter dem Schutzschirm der USA zu einer „Zivilmacht par excellence“ entwickelt, „die sich nur im multilateralen Verbund engagierte, die internationale Politik verrechtlichen und außen- und sicherheitspolitische Kompetenzen an die EU übertragen wollte, an Militäraktionen nicht mitwirkte und sich auf Wohlstandsmehrung und Handel konzentrierte“.

Einerseits war die Bundesrepublik bis 1990 in ihrer Außenpolitik gehemmt. Andererseits war das eine ganz bequeme Rolle. Die USA waren die klare Führungsmacht, sie hatten das letzte Sagen. Hinter ihrem breiten Rücken konnte sich Deutschland manches Mal gut verstecken, wenn es garstig wurde. Jetzt, mit der Wiedervereinigung, war Deutschland als Ganzes wieder vollwertiges Mitglied der Weltgemeinschaft. Das eröffnete neue Chancen, aber schuf auch ganz neue Verantwortung. Wegducken ging nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr so einfach.

Skepsis gegenüber Militäreinsätzen

Wie reagierte Deutschland auf diese neue Lage? Das Leitmotiv deutscher Außenpolitik blieb das alte: keine nationalistischen Alleingänge, sondern selbst gewollte Einbindung in supranationale Gemeinschaften. Die sicherheitspolitische Rückversicherung in der Nato blieb unangetastet. Die Bundesrepublik engagierte sich noch stärker als zuvor für eine Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft – bis hin zur gemeinsamen Währung. Gleichzeitig wurde sie zum stärksten Förderer einer Ost-Erweiterung der EU. Sie lieferte diplomatisch und finanziell den größten Beitrag, um Polen, Ungarn und Litauer in die westlichen Gemeinschaften zu integrieren.

Eher widerwillig sah die Bundesrepublik ein, dass ihre neue Rolle auch den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland bedeutete. Die historisch gut begründete Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen ist bis heute spürbar. Deutschland beteiligte sich zwar an kriegerischen Interventionen, doch immer voller innerer Skepsis – mit einer Präferenz für zivile Lösungen. In den vergangenen 25 Jahren hat das Land seinen Ruf als fairer Makler in internationalen Angelegenheiten, den es sich bis 1990 erarbeitet hatte, trotz gewisser Rückschläge in letzter Zeit bewahrt.

Außenpolitik ist vor allem Krisenpolitik geworden

Im Großen und Ganzen lief es zunächst ziemlich gut für die Deutschen. Ihre Hoffnung, dass nach dem Ende des Kalten Krieges eine große Friedensdividende ausgezahlt würde, erfüllte sich: Sie mussten selbst keine Angst mehr vor einem Krieg auf ihrem Territorium haben, die sowjetisch-russischen Truppen zogen sich sogar bis auf ihr eigenes Staatsgebiet zurück. Die östlichen Nachbarstaaten wandelten sich zu demokratischen, westlich orientierten Gesellschaften. Auch ökonomisch ging es weiter aufwärts.

Aber dann begannen die Dinge zu kippen. Nach einer überwiegend positiven Entwicklung in den neunziger Jahren, die teilweise über die Jahrtausendwende hinaus wirkte, gab es nun eine „negative Dynamik“ (August Pradetto): Die Anschläge vom 11. September 2001 veränderten die Sicherheitslage global. Der islamistische Terrorismus wurde zu einer allgegenwärtigen Gefahr. Eine Finanz- und Wirtschaftskrise erschütterte die Welt. Der Kapitalismus war zwar der Gewinner in der Systemauseinandersetzung mit dem Kommunismus, aber seine oft schrankenlose Entfesselung hatte katastrophale Nebenwirkungen – bis hin zur Beschädigung des Erdklimas. An den Außenrändern Europas kam es zu Kriegen, zu Verzweiflung und Vertreibung, von Nordafrika über den Nahen Osten bis ins Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

Auch wenn Deutschland in diesen weltpolitischen Entwicklungen kein entscheidender Akteur ist, so beeinflussen sie doch seine außenpolitische Lage. Diese ist heute weit weniger komfortabel als noch vor zehn, fünfzehn Jahren. Deutsche Außenpolitik ist vor allem Krisenpolitik geworden, der Anteil strategischer Gestaltung hat stark abgenommen. Die Friedensdividende ist aufgebraucht, die Gefahren nehmen zu. Drei entscheidende Mitspieler gibt es für die Bundesrepublik: die USA, Russland und die EU. Im Verhältnis zu allen dreien kriselt es, teilweise gewaltig.

Die deutsche Europapolitik schlingert

Die Beziehungen zu den USA sind zurzeit, um das Mindeste zu sagen, ambivalent. Auf der Regierungsebene wird eng, bei einigen Konfliktthemen sogar sehr eng zusammengearbeitet – von den Atomverhandlungen mit dem Iran bis zur Ukraine-Russland-Krise. Gleichzeitig ist das Vertrauen der Deutschen in die amerikanische Vertrauenswürdigkeit durch die NSA-Spionageaffäre stark erschüttert.

Das deutsch-russische Verhältnis ist so schlecht wie nie in den vergangenen 25 Jahren. Einer Phase, in der insbesondere Deutschland Russlands Annäherung an die EU und selbst die Nato durchaus Erfolg versprechend vorantrieb, folgte eine politische Eiszeit. Sie wurde vor allem verursacht durch eine gegenüber Moskau auftrumpfende amerikanische Außenpolitik und die russische Reaktion darauf: Mit seinem nationalistischen, an europäischer Machtpolitik des 19. Jahrhunderts orientierten Auftreten hat Wladimir Putin sein Land isoliert. Deutschland bemüht sich um Ausgleich – mit mäßigem Erfolg.

Die EU ist in einem verheerenden Zustand. Die kombinierte Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise ebenso wie die Flüchtlingskrise haben offengelegt, wie handlungsunfähig, wie sehr noch immer von nationalen Ambitionen getrieben diese Gemeinschaft ist. Deutschland gehörte lange Zeit zu den eindeutigen Befürwortern einer weiter gehenden Integration. Aber diese Eindeutigkeit ist unter Gerhard Schröder und Angela Merkel verloren gegangen. Die deutsche Europapolitik schlingert und verstärkt damit die Krise.

Was also sollte die deutsche Außenpolitik heute, ein Vierteljahrhundert nach ihrer Neuaufstellung, tun? Sich angesichts der scheinbar übermächtigen Probleme lieber zurückhalten? Oder stattdessen mehr einmischen, mehr kümmern?

Die Mehrheit der Deutschen will Zurückhaltung

Viele draußen bedrängen die Bundesrepublik, aktiv nach einer wichtigeren Rolle in der Weltpolitik zu streben. „Sowohl Europa als auch die Welt insgesamt erwarten von Deutschland, einen größeren Teil der Lasten der Führungsverantwortung, der kollektiven Sicherheit und der internationalen Sicherheit zu übernehmen“, konstatiert Kofi Annan. Aber der frühere UN-Generalsekretär weiß sehr genau um die Stimmungslage der Bundesbürger, wenn er feststellt: „Es besteht eine wachsende Kluft zwischen der Erwartung der Verbündeten und Partner Deutschlands (. . .) und den von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend befürworteten selbst auferlegten Beschränkungen seiner Außenpolitik.“

In einer 2014 erstellten Studie der Körber-Stiftung sprachen sich nur 27 Prozent der befragten Deutschen für eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt aus. 60 Prozent hingegen waren der Ansicht, dass Deutschland sich „weiterhin zurückhalten sollte“. Diese deutsche Skepsis gegenüber der eigenen Macht hat ihre sympathische Seite, weil sie großmächtigem Getue und kriegerischen Abenteuern einen Riegel vorschiebt. Aber sie wird gefährlich, wenn sie in Wahrheit einer Illusion entspringt: dem Irrglauben, Deutschland werde von den Kriegen und Krisen rundum weniger berührt, wenn es sich selbst nicht um deren Entschärfung und Überwindung bemüht.

Die Probleme sind nicht weg, wenn wir sie nicht sehen wollen. Es ist deshalb nicht nur klüger, sondern auch der Geschichte Deutschlands, seiner geostrategischen Lage und seinem politischen und ökonomischen Gewicht entsprechend, wenn es sich außenpolitisch noch stärker als bisher einmischt und dabei auch bereit ist zu führen.

Mehr Führungsbereitschaft, darauf weist Timothy Garton Ash zu Recht hin, sollte dabei zuallererst bedeuten, innerhalb der EU zu führen. Der britische Historiker empfiehlt deshalb: „Die entscheidende strategische Aufgabe der deutschen, wie auch der französischen, polnischen, niederländischen und britischen Außenpolitik ist nicht, jeweils ihre nationale Außenpolitik zu verbessern, sondern eine wahrhaft europäische Außenpolitik zu schaffen.“