Frank Witzel hat mit „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ einen grotesken Roman geschaffen. Sein Held versucht als Junge und als Mann die Welt zu verstehen und scheitert grandios - oder auch nicht.

Frankfurt - Was haben die Rote Armee Fraktion (RAF) und ein 13-Jähriger Ende der 1960er Jahre in Deutschland gemein? Hier mehr und da weniger ausgeprägten destruktiven Aktionismus - hier mit tödlichen, da mit selbstzerstörerischen Konsequenzen. Natürlich muss dazu gesagt werden, dass es sich bei dem Jungen nicht um irgendeinen Teenager handelt. Immerhin nimmt eben jener das für bare Münze, was sein geistiger Vater, der Autor Frank Witzel, mit dem sperrigen Titel seines Romans verrät: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Titel und Lektüre sind eine Herausforderung.

 

Eine knappe Inhaltsübersicht des außergewöhnlichen Machwerks ist nahezu unmöglich. Denn die 800 Seiten enthalten weder eine logische noch chronologische Abfolge von Ereignissen, ja eigentlich überhaupt keinen sinnvollen Aufbau. Denkt man! Am Ende ist die Absicht des 1955 in Wiesbaden geborenen Schriftstellers erkennbar und ein Fazit möglich. Auch mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses - als einzigem überschaubaren Teil des Buches. Aber bis dahin ist es ein weiter und wahrhaftig nicht leichter Weg, der erst einmal gegangen werden muss. Nur Mut: Es lohnt sich.

Auf den noch relativ geraden Pfaden folgt man dem 13-Jährigen durch Schule, Elternhaus und Kirche. Man sieht zu, wie er mit Freunden Unsinn verzapft, durch die freie Zeit strolcht, die Beatles hört und im Fernsehen die im Umgang mit der ersten Terroristengeneration hilflose Politik verfolgt. Und dabei denkt, dass vielleicht seine Clique gemeint sein könnte. Wenn sie das nicht sogar ist. Hinzu kommen herrlich absurde Vorstellungen von der „Ostzone“ sowie die sexuellen Fantasien eines Pubertierenden, die im krassen Kontrast zu seiner streng katholischen Erziehung stehen.

Die Pfade führen nie zu Ende

Die Krux: Die Pfade führen nie zu Ende. Es gibt ständig Brüche, ganz verschiedene. Es sind nicht nur die laufend wechselnden Zeitebenen, die bis in die Gegenwart reichen. Es ist vor allem der Stil. Frank Witzel flicht - kaum hat man sich von der 60er-Jahre-Szenerie einigeln lassen - Protokolle eines imaginären Verhörs zum Thema RAF ein. Oder Traumsequenzen. Oder Briefe und Fragebögen. Oft sprachlich unvollendet. Am meisten beeindrucken wohl die wechselwirkenden „Unterhaltungen“ des Jungen mit Pfarrer Fleischmann und dem Psychotherapeuten Dr. Märklin, weil besonders sie das Dilemma des Jungen freilegen, das ihn letztlich auch kapitulieren lässt.

Kurz, es sind 800 Seiten voller Überraschungen, voller Witz, Ironie und Tragik. Und 98 Kapitel, deren letztes vielsagend mit „Der Befrager rät von einem Neuanfang ab“ überschrieben ist. Was man beim Lesen aber nicht weiß, da es wie die meisten nicht wirklich einen Titel hat. Der ist nur dem Inhaltsverzeichnis zu entnehmen. Bei Leseproblemen kann das Verzeichnis als Wegweiser durch die Lektüre führen. Dann erkennt man immerhin vorher, dass solch grotesken Überschriften wie „Rede des Erwachsenen Teenagers vom Weltgebäude der Spezialambulanz für Persönlichkeitsstörungen des Universitätsklinikums Eppendorf herab“ auch ganz „normale“ folgen (können).

Witzels Buch ist ein Sammelsurium der Absurditäten, der literarischen Unmöglichkeiten und religiösen Anleihen, der intelligenten Mehrdeutigkeiten, der philosophischen Exkurse und manchmal seltsamen Konsequenzen, die trotz genannter Bruchstellen miteinander verwoben sind und ebenso lauthals lachen wie auch betroffen innehalten lassen. Das Beispiel schlechthin: Wenn die Lektüre schon nicht sonderlich Schmeichelhaftes über die gesamtdeutsche Gegenwart offenbart, so ist die Reise in die west- und ostdeutsche Vergangenheit umso schmerzhafter - mit RAF-Terror hier und Staatsterror dort.