Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Endlich sprinten behelmte Polizisten herbei, formieren sich zu einer Kette. Edith Bengs beobachtet, wie Demonstranten die Beamten mit Äpfeln bewerfen und ihnen ins Gesicht spucken. Die Polizisten lassen sich die Schweinereien gefallen, ihr Chef hat ihnen befohlen: Auf keinen Fall provozieren lassen! Vier Stunden benötigt Edith Bengs für die zwei Kilometer bis in den Stuttgarter Süden. Vor dem Schwabtunnel kommt sie in eine Ausweiskontrolle. Sie weint. „Bitte lassen Sie mich endlich nach Hause zu meinem Kind!“

 

35 Jahre später. Edith Bengs, 79, sitzt daheim in Botnang auf einer rustikalen Küchenbank und erzählt, dass sie ein halbes Jahr nach der Trauerfeier das Terroristengrab auf dem Dornhaldenfriedhof besucht habe. „Ich wollte wissen, ob sich jemand darum kümmert.“ Ein Ahornbäumchen und Rosenstöcke waren gepflanzt worden, eine Kerze brannte. „Mich hat das damals bewegt“, sagt sie. „Irgendwie waren die drei Terroristen über den Tod hinaus vereint.“

Der pensionierte Totengräber Eduard Kreer, 83, lebt heute in einem Möhringer Seniorenwohnheim. Er geht an Krücken, aber im Kopf ist er beweglich geblieben. Kreer sagt, dass er ungern an den 27. Oktober 1977 zurückdenke. Über die „unverfrorenen Zeitungsfritzen“ regt er sich noch immer auf, „die besaßen keinen Anstand“. Bis 1992 arbeitete Kreer auf dem Friedhof, häufig wurde er gefragt: „Wo sind die Terroristen begraben?“ Er antwortete stets: „Terroristen gibt es hier nicht, nur Tote.“

„Mauern des Hasses“

Der evangelische Pfarrer Bruno Streibel verließ 1985 seine Gemeinde im Stuttgarter Westen und wurde Klinikseelsorger in Bad Friedrichshall. Mittlerweile ist er fast 70 und offiziell im Ruhestand, kümmert sich für den Arbeiter-Samariter-Bund aber noch immer um traumatisierte Menschen. Im Dachgeschoss seines Neckarsulmer Hauses stapeln sich Fachbücher, die Wände sind mit Kinderzeichnungen tapeziert. Vor ihm liegt seine 35 Jahre alte Trauerrede. „Jeder Mensch hat eine unzerstörbare Würde, unabhängig davon, ob er tugendhaft oder kriminell ist“, sagt Streibel. „Das war meine Botschaft, und ich glaube, dass ich damals die richtigen Worte gefunden habe.“

Ministerpräsident Hans Filbinger drängt darauf, dass nur die Schwäbin Ensslin in seinem Musterländle beigesetzt wird. Die Leichen von Baader und Raspe sollen nach Frankfurt und Berlin abgeschoben werden, den Wohnorten ihrer nahen Angehörigen. Filbinger weiß die breite Öffentlichkeit hinter sich. Doch Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel ignoriert sowohl den gnadenlosen Landesvater als auch die kochende Volksseele und lässt ein Gemeinschaftsgrab auf dem Dornhaldenfriedhof zu. „Mit dem Tod muss alle Feindschaft enden“, spricht Rommel. In einer Aktennotiz des Friedhofsamts heißt es, das Stadtoberhaupt „möchte auch verhindern, dass Särge in der Republik herumgeschoben werden und niemand sie haben will“.

Wer soll die Trauerfeier leiten? Der pensionierte Pfarrer Helmut Ensslin würde gerne selbst bei der Beerdigung seiner Tochter Gudrun und deren RAF-Genossen predigen, doch diesen Wunsch erfüllt ihm der Evangelische Oberkirchenrat nicht. Zudem wird Ensslin, der an der behördlichen Kollektivselbstmorddarstellung offen zweifelt, „nachdrücklich aufgefordert, keine Verdächtigungen und Vermutungen mehr über den Tod der drei Terroristen zu äußern“.

Bruno Streibel, Pfarrer im Stuttgarter Westen, schätzt seinen früheren Amtskollegen als ehrlichen, hochgebildeten Christen. Streibel schämt sich für jene in der Kirche, die Helmut Ensslin für die Taten seiner Tochter mitverantwortlich machen. Er ist überzeugt, dass den trauernden Vater keine Schuld trifft, dass ihm bitter Unrecht getan wird. Der junge Seelsorger will tun, was er für die Familie tun kann. Obwohl er eigentlich Urlaub hat, bietet Streibel an, die Beerdigung zu leiten. Helmut Ensslin ist einverstanden.

In den folgenden Nächten steht Streibel häufig auf, um an seiner Trauerrede zu feilen. Was soll er am Grab sagen? Würde der Pfarrer von einem „Suizid“ sprechen, könnte man ihn für einen Handlanger des Staates halten. Würde er eine Formulierung wie „unter mysteriösen Umständen“ wählen und damit die Möglichkeit einer anderen Todesursache offenlassen, würde ihm das womöglich als Parteinahme für die RAF ausgelegt. In der dritten schlafarmen Nacht sitzt er vor seiner Schreibmaschine und tippt drauflos: „Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin sind tot. Wir legen sie in diese Erde.“ Bruno Streibel hat ebenso unverfängliche wie treffende Worte gefunden.

Die Suchen nach dem Menschlichen

Am Morgen des 27. Oktober 1977 leitet der Amtschef Ernst Schauer persönlich die Dienstbesprechung der städtischen Friedhofsmitarbeiter. Der Totengräber Eduard Kreer erfährt, dass die Särge nicht wie üblich im Leichenhaus auf die Träger warten, sondern erst kurz vor der Bestattung von einem unbekannten Ort herbeigeschafft werden. Welche Leiche in welchem Sarg liegt, unterliegt strengster Geheimhaltung. Kreer wird Nummer eins, vorne links, zugewiesen. Die zwölf Totengräber sollen an der Aussegnungshalle warten, bis die heikle Fuhre eintrifft.

Um 9.52 Uhr hievt Eduard Kreer mit drei Kollegen Sarg eins aus einem Transporter auf einen Wagen und schiebt ihn in die Feierhalle. Zu der Trauerzeremonie sind nur geladene Gäste und einige Pressevertreter zugelassen. Draußen haben sich RAF-Sympathisanten versammelt und ein Transparent enthüllt: „Gudrun, Andreas und Jan in Stammheim gefoltert und ermordet“. Drinnen predigt Pfarrer Streibel: „Für die einen haben die drei Toten zerstört, was vielen Halt gibt. Für die anderen verbindet sich mit ihrem Namen – trotz Zerstörung – die Suche und der Kampf um das, was menschlich ist.“ Noch geht es pietätvoll zu.

Als sich der Trauerzug formiert, wird es hektisch. Hunderte Journalisten stürzen auf die Särge zu, ein Reporter schreit Kreer an: „Mach den Deckel auf! Zeig uns die Leiche!“ Der Totengräber verzieht keine Miene, fährt den Ellenbogen aus und drückt die Pressemeute beiseite. Pfarrer Streibel muss auf dem 500 Meter langen Weg von zwei Kollegen gezogen werden, um überhaupt vorwärts zu kommen. Einmal baut sich ein Demonstrant vor ihm auf und fragt: „Na, Herr Pastor, haben Sie jetzt Angst?“ Streibel antwortet: „Ja.“

Am Grab – Abteilung 99, hinterste Reihe – wird Sarg eins auf der rechten Seite abgelassen, Sarg zwei kommt nach links, der dritte wieder nach rechts. Kameraleute hetzen an den Rand, werfen Blumenvasen um. Zuschauer hangeln sich an Pappelstämmen hinauf, brechen dabei Äste ab. Das „Vater unser“ übertönen Regieanweisungen („Nimm den Ensslin im Profil!“) und die Parolen der Sympathisanten („Noch ist nicht genug Blut geflossen!“). Anneliese Baader ohrfeigt einen Fotografen, der sie, die Mutter des toten Topterroristen, hautnah einfangen will.

Tausend Beamte stehen tausend Besuchern gegenüber

Eine Dienstanweisung lautet: Sobald die Angehörigen der Verstorbenen gegangen sind, sollen die Totengräber das Grab schließen. Kreer schaufelt, so schnell er kann. Anschließend legt er Kränze auf die Ruhestätte. „Gott sei gnädig Sündern und Gerechten“ steht auf den Schleifen, „Zentralkomitee des Kommunistischen Bundes“ oder „Letzter Gruß Dein Onkel Walter“. Jeder, der den Friedhof verlässt, wird an den Ausgängen von der Polizei kontrolliert – tausend Beamte stehen tausend Besuchern gegenüber. Kreer sieht, wie vermummte Gestalten über den Zaun klettern und im Wald verschwinden.

Zu diesem Zeitpunkt stellt Edith Bengs in der nahe gelegenen Gärtnerei Tiedemann ein Blumengebinde für eine nachmittägliche Trauerfeier zusammen. In der Ferne hört sie Polizeisirenen und Geschrei, am Himmel kreisen Hubschrauber. Normalerweise würde die Halbtagskraft Bengs noch zwei Stunden arbeiten, doch ihrer Chefin ist der Rummel nicht geheuer: „Edith, du solltest heute lieber früher heimfahren.“ Gegen elf macht sich Bengs auf den Weg.

Hinter dem großen Friedhofsparkplatz biegt sie in die Karl-Kloß-Straße ein. Sie kommt kaum 200 Meter weit, dann rennt rechts aus dem Wald eine wilde Horde auf ihr Auto zu. Ein Dutzend mit Palästinensertüchern Vermummte schütteln an ihrem Fiat. Edith Bengs ist Floristin, keine Kapitalistin. Doch dieser Unterschied interessiert die linken Revolutionäre nicht, sie versetzen ihr Zufallsopfer in Todesangst. Edith Bengs, die sich nicht sonderlich für Politik interessiert, bekommt die Kälte des Deutschen Herbstes zu spüren. Sie zündet sich eine Zigarette an und versucht, Ruhe zu bewahren. Viele Minuten vergehen.

Über den Tod hinaus vereint

Endlich sprinten behelmte Polizisten herbei, formieren sich zu einer Kette. Edith Bengs beobachtet, wie Demonstranten die Beamten mit Äpfeln bewerfen und ihnen ins Gesicht spucken. Die Polizisten lassen sich die Schweinereien gefallen, ihr Chef hat ihnen befohlen: Auf keinen Fall provozieren lassen! Vier Stunden benötigt Edith Bengs für die zwei Kilometer bis in den Stuttgarter Süden. Vor dem Schwabtunnel kommt sie in eine Ausweiskontrolle. Sie weint. „Bitte lassen Sie mich endlich nach Hause zu meinem Kind!“

35 Jahre später. Edith Bengs, 79, sitzt daheim in Botnang auf einer rustikalen Küchenbank und erzählt, dass sie ein halbes Jahr nach der Trauerfeier das Terroristengrab auf dem Dornhaldenfriedhof besucht habe. „Ich wollte wissen, ob sich jemand darum kümmert.“ Ein Ahornbäumchen und Rosenstöcke waren gepflanzt worden, eine Kerze brannte. „Mich hat das damals bewegt“, sagt sie. „Irgendwie waren die drei Terroristen über den Tod hinaus vereint.“

Der pensionierte Totengräber Eduard Kreer, 83, lebt heute in einem Möhringer Seniorenwohnheim. Er geht an Krücken, aber im Kopf ist er beweglich geblieben. Kreer sagt, dass er ungern an den 27. Oktober 1977 zurückdenke. Über die „unverfrorenen Zeitungsfritzen“ regt er sich noch immer auf, „die besaßen keinen Anstand“. Bis 1992 arbeitete Kreer auf dem Friedhof, häufig wurde er gefragt: „Wo sind die Terroristen begraben?“ Er antwortete stets: „Terroristen gibt es hier nicht, nur Tote.“

„Mauern des Hasses“

Der evangelische Pfarrer Bruno Streibel verließ 1985 seine Gemeinde im Stuttgarter Westen und wurde Klinikseelsorger in Bad Friedrichshall. Mittlerweile ist er fast 70 und offiziell im Ruhestand, kümmert sich für den Arbeiter-Samariter-Bund aber noch immer um traumatisierte Menschen. Im Dachgeschoss seines Neckarsulmer Hauses stapeln sich Fachbücher, die Wände sind mit Kinderzeichnungen tapeziert. Vor ihm liegt seine 35 Jahre alte Trauerrede. „Jeder Mensch hat eine unzerstörbare Würde, unabhängig davon, ob er tugendhaft oder kriminell ist“, sagt Streibel. „Das war meine Botschaft, und ich glaube, dass ich damals die richtigen Worte gefunden habe.“

Die Beerdigung am 27. Oktober 1977 hätte leicht aus dem Ruder laufen können. Streibel spricht von „zwei Mauern des Hasses“, die sich um ihn aufgebaut hatten. Auf der einen Seite die alten Staatstreuen mit ihren unverrückbaren Standpunkten, auf der anderen Seite die jungen Staatsfeinde mit ihren tödlichen Illusionen. Und dazwischen ein Geistlicher, der Frieden und Menschlichkeit predigte. „Die Frage, aus welchen Quellen sich der Hass speiste, der zu dieser hysterischen Polarisierung führte, scheint mir bis heute noch nicht beantwortet“, sagt Bruno Streibel.