Die Angst vor der Versorgungslücke ist groß. Schon jetzt sind Fachkräfte knapp. Auf dem ersten Deutschen Pflegetag werden Lösungen diskutiert. Bund und Land haben Pläne – aber wann werden sie verwirklicht?

Berlin - Die Pflegebranche scheint selbst Fürsorge zu brauchen. „Mit dem Rücken zur Wand – nichts geht mehr“ lautet das Motto des am Donnerstag in Berlin eröffneten, dreitägigen Deutschen Pflegetages mit 1000 Teilnehmern. Von einem Notstand möchte in den Berufsverbänden keiner sprechen, aber das Ansehen und die Arbeitsbedingungen in der Pflege seien stark verbesserungsfähig. „Früher sagte man in Stuttgart, ich bin stolz, beim Daimler zu schaffen“, sagt Werner Hesse, der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: „Wer sagt heute, er sei stolz, in der Pflege zu arbeiten?“ Die Medien bauschten Skandale in den Heimen auf, und in der Politik sei die Pflege im Hintertreffen, klagt Hesse. Die Arbeitsverdichtung gerade im ambulanten Bereich sei enorm: „In die Wohnung rein und wieder raus. Die Minutenpflege belastet alle – Pflegekräfte und Versorgte.“ Da es kaum Vergütungsanpassungen gegeben habe, sei der Druck gewachsen.

 

Andreas Westerfellhaus, Präsident des Pflegerates, eines Dachverbandes von 15 Berufsorganisationen, sieht das ähnlich. Er spricht von „Pflege im Dauerlauf“. Man brauche mehr Kolleginnen und Kollegen im Beruf, die Arbeitsverdichtung sei gestiegen. Pflegekräfte sollten nicht nur „Gehilfen des Arztes“ sein, sondern eigenverantwortlich arbeiten, fordert er. Die Bezahlung müsse besser sein. „Wenn mancherorts Altenpflegerinnen 1900 Euro brutto verdienen, können sie nicht mal fürs Alter vorsorgen.“

Klaffende Lücke auf dem Arbeitsmarkt

Die Pflegeverbände sehen viele Baustellen: Schon jetzt klafft eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt. Bundesweit fehlen 30 000 Fachkräfte, konstatiert der Arbeitgeberverband Pflege. Er will noch in diesem Jahr 150 Pfleger aus China rekrutieren. Angespannt ist die Lage in den Städten: Im Bereich der Arbeitsagentur für Stuttgart und Böblingen sind derzeit fast 400 Stellen in der Kranken- und Altenpflege nicht besetzt (Stand Dezember 2013). Der demografische Wandel wird die Lage verschlimmern. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2030 um die Hälfte steigen. Stellt die Politik nicht die Weichen neu, werden bis dahin eine halbe Million Stellen in der Pflege unbesetzt bleiben – eine dramatische Zahl. „Wir laufen sehenden Auges in die Katastrophe“, sagt Westerfellhaus.

Mit Wohlwollen blickt die Branche auf den schwarz-roten Koalitionsvertrag – bei der AOK ist gar von einer „Liste angekündigter Wohltaten“ die Rede. Das größte „Bonbon“ ist die vereinbarte Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung um 0,3 Prozent zum 1. Januar 2015 und eine weitere Anhebung um 0,2 Prozent zu einem späteren Zeitpunkt. Da werde endlich Geld ins System gespült, sagen Experten, das sei mehr als ein Inflationsausgleich.

Die Versprechen des Gesundheitsministers

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) geht davon aus, dass mit den neuen Mitteln jährlich sechs Milliarden Euro mehr verfügbar sind, eine Leistungsausweitung in der Pflege „um 20 Prozent“ sei möglich. „Wir wollen stärker auf die individuelle Pflegebedürftigkeit eingehen – für sie muss mehr Zeit sein.“ Auch andere Pläne von Schwarz-Rot finden Lob: die Umsetzung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der Demenzerkrankungen berücksichtigt, die Einstellung von 45 000 Betreuungskräften in Heimen und eine bezahlte Pflegezeit für Familienangehörige. „Es kommt darauf an, mit welchem Elan Gröhe die Aufgabe anpackt“, meint Werner Hesse. Die Vorgänger hätten die Pflegereform stets verschoben: „Gröhe muss Gas geben.“

Die baden-württembergische Landesregierung meint, das in ihrer Macht Stehende schon zu tun. Sie will dem drohenden Pflegenotstand vorbeugen. Ein Mittel dazu ist das neue „Heimrecht“, das alternative Wohnformen – Alten- und Dementen-WGs – stärken und aus der rechtlichen Grauzone holen will. Mit solchen Gemeinschaften lässt sich Geld und Personal sparen. Und sie kommen dem Wunsch entgegen, möglichst lange selbstbestimmt zu leben. „Wir brauchen eine Vielfalt von Wohnformen“, sagt Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD).

Zu starke Vorschriften für Wohngruppen?

Ihr Gesetzentwurf erntet aber Kritik. Statt die Gründung von WGs zu erleichtern, würden die Hürden durch bestimmte Personalvorgaben erhöht, klagt Johannes Kessler, der zuständige Referent bei der württembergischen Diakonie. Kirchengemeinden, die solche Projekte als Träger vorantreiben wollten, würden durch das wirtschaftliche Risiko eventuell abgeschreckt. Auch die Vorschrift, dass Wohngruppen für Demente höchstens acht Personen umfassen dürfen, würge diese ökonomisch ab. Ob der Schelte überarbeitet die gelernte Altenpflegerin Altpeter nun den Entwurf. Allerdings beharrt sie darauf: Missstände etwa in Berliner Alten-WGs zeigten die Notwendigkeit einer stärkeren Kontrolle.

Über die Details der geplanten Änderungen hält sich ihr Sprecher freilich bedeckt. Ausführlicher erläutert er: Drei Millionen Euro gebe das Land für mehr Nacht- und Tagpflegeplätze aus, um mit ihnen vor allem im ländlichen Bereich pflegende Angehörige zu entlasten. Fast vier Millionen stecke man in die Förderung von technischen Assistenzsystemen. 700 000 Euro stünden im Etat zusätzlich für die Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements in der Altenbetreuung.

Vielen Fachleuten ist das nicht genug. Die Landesregierung verliere den Blick auf die Realitäten, klagt Bernhard Schneider, der Chef der Evangelischen Heimstiftung. Bis 2030 brauche man zusätzlich 57 000 Pflegefachkräfte und rund 51 000 Pflegeheimplätze. Allein dafür seien Investitionen von 5,6 Milliarden Euro nötig. Auf solch drängende Fragen gebe das Land keine überzeugende Antwort. Auch an anderer Stelle sehen die Einrichtungen Nachholbedarf. Sie verlangen den Abbau von Bürokratie. Und weil die Menschen heute viel später ins Heim kommen, brauchen sie mehr Hilfe als früher. Deshalb müsste der seit Jahren geltende Personalschlüssel erhöht und die Kostensätze müssten gesteigert werden. Auf Landesebene solle darüber ein neuer Rahmenvertrag mit Pflegekassen und Sozialhilfeträgern geschlossen werden. Für all dies reiche die anvisierte Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung aber nicht aus.