Haste Töne! Was Chorverbandschef Henning Scherf prophezeite ist wahr geworden: Stuttgart singt. Am Schlossplatz auf der großen Bühne, in den Konzertsälen, aber auch in allen Ecken und Gassen tauchen Chöre auf und geben der Lebensfreude eine Stimme.

Stuttgart - Der Präsident hat Recht. Stuttgart singt überall. Bereits am Donnerstag orakelte Henning Scherf, der Präsident des Deutschen Chorverbandes, die Stuttgarter werden überall bespielt. In Kneipen, in der Bahn oder einfach so auf Plätzen oder Straße. Das erlebten auch die Besucher des Alten Schlosses im Innenhof. Oder Gäste der Lokale am Hans im Glück Brunnen. Der Südwestpfälzer Kinderchor, der auch bei einem Wettbewerb antritt, streifte am Freitagmorgen durch die Stadt und sang munter drauflos. Ihr Liedchen „Jäger lauf!“ wurde rasch zu einem Gassenhauer. „Es ist eine ganz tolle Sache“, lobte eine Passantin.

 

Stuttgart sucht den Starchor

Dieter Bohlen ist heißt hier Erik Sohn (41). Der Musik-Professor aus Köln und Vocal-Coach der Wise Guys hat die Aufgabe beim Chorfest als Mitglied einer Jury den besten Chor der Kategorie eins im Bereich Pop/Gospel/Jazz zu küren. Allerdings hat Sohn ganz andere Kriterien als Bohlen. Während der Superstar-Sucher Bohlen auch als Aal-Dieter auf dem Fischmarkt durchgehen könnte, bevorzugt der Professor die leisen Töne: „Ich achte bei den Chören auf Intonation, Timing und Artikulation.“ In nur 15 Minuten müssen die Chöre in drei oder vier Liedern beweisen, was sie drauf haben. „Da schau ich, wie der Aufbau ist, wie der Chor die Musik gestaltet. Und ob er den Vortrag verinnerlicht hat oder das Ganze nur aufgesetzt ist.“ Ganz wichtig ist jedoch ein Merkmal: Wie ist der Sound und die Klangvielfalt? In diesem Punkt ist Erik Sohn dann vielleicht doch ein bisschen bei Dieter Bohlen: „Wichtig ist, was im Ohr ankommt.“

Das Energiebündel

Der Star ist der Chor. Es ist das Mantra der meisten Chorleiter. Auch wenn es viele ernst meinen, so wissen sie doch: Der Schwanz wedelt nie mit dem Hund. Besser: Ohne den Taktgeber ist alles nichts. Auch Ellen Strauß-Wallisch sagt: „Mein Chor ist der Star.“ Und doch ragt die 42-Jährige ein bisschen heraus. Die Leiterin der Rhythmicals aus Esslingen hat die Wirkung einer Monats-Produktion Red Bull. Sie reißt ihre Choristen regelrecht mit. Zu ungeahnten Leistungen. Denn ihr Gospel- und Pop-Chor hat sich erstmals für den Wettbewerb in der Kategorie eins qualifiziert. Wer sich die Esslinger anschaut und anhört, weiß warum: Es ist ein musikalisches Feuerwerk, das sehr professionell anmutet. „Und das obwohl wir nur eineinhalb Stunden pro Woche üben“, sagt sie. Aber es ist wohl ihre Energie, die sie auf andere überträgt. „Ja, ich glaube, es liegt mir, Menschen zu motivieren“, sagt sie über ihre Gabe. Selbst hat sie erst spät gemerkt, dass (Chor-)Musik ihre eigentliche Berufung ist. Damals, vor 15 Jahren, war sie noch Juristin. Jetzt ist sie Musiklehrerin und sagt jedem, der mit ihr musiziert: „Beethoven hat gesagt: Fehler sind verzeihlich. Aber Musik ohne Leidenschaft ist unverzeihlich.“ In diesem Sinne ist es ihr auch egal, ob sie am Sonntag mit ihrem Chor auf dem Siegerpodest landet: „Nicht die Platzierung ist entscheidend – wichtig ist, dass wir mit dem, was wir tun, Emotionen haben.“

Der Oberhirte

Singen sei nicht nur bloßes Musizieren, es habe auch eine tiefere Bedeutung, gibt der württembergische Oberhirte seinen Schäfchen mit auf den Weg zum Chorfest. Landesbischof Frank Otfried July verweist in diesem Zusammenhang auf Reformator Martin Luther, der beim Singen „Zorn, Zank, Hass oder Neid“ weichen sah. July betont: „Singen verändert den einzelnen Menschen genauso wie die Gesellschaft als Ganzes. Wo Menschen wie beim Deutschen Chorfest miteinander singen, wird die Welt menschlicher und vielleicht sogar ein bisschen besser.“ Das Chorfest mache Stuttgart aus diesem Grund zu einem „Klangraum der Hoffnung“.

Wunder vom Schlossplatz

Und es können doch alle singen. Auch Brigitte Hermann kann’s. „Früher hat man mir immer gesagt, ich könne nicht singen“, sagt sie. Worte mit unglaublicher Wirkungsmacht. Bis Freitag glaubte die Seniorin tatsächlich, sie könne „keine Töne halten“. Ihre Freundin Gabriele Gerngroß zieht bei dieser Einschätzung nur die Augenbrauen nach oben. Sie weiß es offenbar besser. Auch weil sie sehr ambitioniert im Chor der Markuskirche singt. Also hat sie ihre Freundin animiert, mit auf den Schlossplatz zum „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ zu kommen. Einem Stelldichein von geübten Sängern und Stimmen, denen bisher die Traute fehlte. Bei etwa 300 Leuten vor der Bühne hält sich das Verhältnis etwa die Waage. Statistisch sind die Nichtsänger in der Mehrzahl. 78 Prozent der Deutschen singen selten oder nie. Wie Brigitte Hermann. Aber Vorsänger Michael Betzner-Brand bewirkt auch bei ihr das kleine Wunder. Innerhalb kürzester Zeit schafft er es, bei ihr und allen anderen Bedenken und Hemmungen abzulegen. Seine Prophezeiung wird wahr: „Am Ende werden Sie ,Chakka: Ich kann’s’ schreien.“ Brigitte Hermann kommt nicht ganz soweit. Das Gewitter beendet Betzner-Brands Mission vorzeitig. Und dennoch: Brigitte Hermann ist nach dieser Erfahrung nicht mehr abgeneigt, „sich einen passenden Chor zu suchen“. Auch die anderen ehemaligen Nichtsänger wissen nun, was Michael Betzner-Brand meint, wenn er sagt: „Sing einfach dein Ding!“

Wunder, Teil II

Eines der Chorfest-Mottos lautet: Wer reden kann, auch singen. „Das stimmt so nicht“, sagt Anette Schmitz-Unger (64). Die Stuttgarter Ärztin in hatte vor knapp fünf Jahren einen Schlaganfall. „Ich konnte damals nicht mehr sprechen“, sagt sie in Worten, die ihr heute immer noch mühevoll über die Lippen gehen: „Aber singen konnte ich sofort.“ Zunächst nur in melodischen Klängen, dann wenig später auch mit Worten. „Daher müsste der Spruch des Chorfestes eigentlich so lauten: „Wer nicht reden kann, kann trotzdem singen“, meint sie.