Beim Deutschen Chorfest haben die Hymnuschor-Knaben zusammen mit einem zusammengewürfelten Chor aus 400 Laiensängern in der Liederhalle den Messiah aufgeführt – und den Saal mit etwas gefüllt, was nur schwer zu beschreiben ist.

Stuttgart - Am frühen Morgen ist der Beethovensaal in der Liederhalle noch ein einziges Vakuum. Nur Stühle mit der Einteilung Bass, Tenor, Sopran und Alt füllen den Raum. Zehn Stunden später soll der Saal voll sein. Voll von Stimmen, die bei einem einzigartigen Projekt mitwirken. Sängerinnen und Sänger, die sich an diesem Tag zum ersten Mal treffen, proben gemeinsam und sollen am Ende zusammen mit den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben und dem Stuttgarter Kammerorchester zum Chor der tausend Stimmen werden. Ein ehrgeiziges Unternehmen. Ein gewagtes Chorprojekt. Schließlich darf jeder, der es sich zutraut mitmachen. Egal ob Profi oder Amateur. Auch die Aufgabe ist anspruchsvoll: Die Choristen sollen nicht nur Trallala singen. Sie sollen Georg Friedrich Händels „Messiah“ aufzuführen. In Englisch, nicht auf deutsch.

 

Entsprechend ist die Stimmung unter den Teilnehmern. Es knistert. Die Anspannung ist hoch, die Nervosität höher. „Ja, ich habe schon ein bisschen Bammel“, gesteht Marita Schubert (64). Dabei ist die Sängerin aus Erdmannhausen fast ein Profi. Sie singt seit über zehn Jahren im örtlichen Kirchenchor und hat bereits im Winter bei einem ähnlichen Projekt mitgesungen. Damals war es Bachs Weihnachtsoratorium mit den Hymnus-Chorknaben statt Händels „Messiah“. „Dennoch bin ich ein wenig nervös“, gesteht sie. Marita Schubert hat Bammel davor, „einen Einsatz zu verpassen oder dazwischen zu plärren. Das wäre fatal“. Nur gut, dass die Hymnus-Chorknaben dabei sind, meint sie. An den begnadeten Burschen könne sie sich zur Not orientieren: „Die singen so sicher, dass es eine wahre Freude ist, mit denen gemeinsam zu singen.“

So etwas ist selbst für eine ambitionierte Chorsängerin wie Marita Schubert etwas besonderes. Zumal in dieser Kulisse. Dort, wo sie sonst nur Konzerte genoss, darf sie am Nachmittag selbst Teil einer großen Aufführung ein. „Das ist schon faszinierend“, sagt sie, „auf so einer Bühne habe ich noch nie gestanden. Dieser Klangraum in der Liederhalle hat eine unglaubliche Wirkung.“ Auch der Präsident des Deutschen Chorverbandes, Henning Scherf ist offensichtlich beeindruckt. Statt sich bei den Bässen einzureihen, nimmt er zunächst bei einer falschen Stimmlage Platz.

Auch der Präsident ist nicht perfekt

So etwas tröstet. Und es zeigt: Wenn selbst der Präsident nicht perfekt ist, müssen es alle anderen auch nicht sein. Dennoch will jeder sein Bestes geben. Auch Marita Schubert will ihren Teil dazu beitragen, dass am Ende etwas Großes entstehen kann - „dieses einmalige Gemeinschaftserlebnis“. Damit es entstehen kann, muss der Leiter des Hymnus-Knaben-Chors, Rainer Johannes Homburg, an diesem Samstagmorgen noch genauer hinhören als sonst. Allerdings hat der Maestro inzwischen Übung darin, einen Top-Chor und Laien innerhalb eines Vormittags zu einem Großen und Ganzen zu verschmelzen. Alleine in Stuttgart hat er das schon fünf Mal geschafft. Virtuos, ohne Frage, aber auch mit der nötigen Distanz. „Ich kann nur das erwarten, was die Leute auch wirklich leisten können. Schließlich geht es nicht darum eine hochambitionierte Leistung abzuliefern, die man anschließend auf eine Platte pressen kann.“ Kurzum: Man muss bei so einem Projekt auch mal fünf gerade sein lassen. „Hier geht es in erster Linie darum, dass wir gemeinschaftlich etwas erarbeiten, dass es Laune macht und wir einen tollen Tag erleben“, sagt Homburg.

Allerdings gilt gerade bei Händels „Messiah“: Ohne höchste Konzentration, Aufmerksamkeit und Disziplin kommt nichts Gutes am Ende heraus. Im Sport würde man sagen: Am Start erkennt man den Sieger. „Die ersten fünf Minuten sind entscheidend“, weiß Rainer Johannes Homburg. Hier gilt es, die Basis zu legen - mit Genauigkeit, aber auch Humor. Homburg ist nicht nur Dirigent. Er ist Vermittler. Zwischen seinen perfekten Knaben und den Laien. „Ich muss einen Ausgleich finden“, sagt er, „zwischen dem, was geht. Und dem, was Stress macht.“ Fördern und Fordern.

Auch der Meister ist zufrieden

Das gilt bereits beim Warmsingen. Besser gesagt schon davor. Bevor auch nur eine Note die Münder verlässt, predigt Homburg die Regeln der Chor-Musik: „Wer singt, steht auf. Wenn wir stehen und singen, wird nicht gesprochen. Und man geht mittendrin nicht aufs WC und trinkt nicht.“ Mit dieser Ansage hat der Dirigent die nötige Schärfe und Aufmerksamkeit geschaffen. Von nun an läuft die Sache wie von selbst.

Die etwa 400 Laiensänger harmonieren perfekt mit dem Stuttgarter Vorzeige-Chor. Alles wirkt harmonisch, als rundes Ganzes. Auch der Meister selbst ist zufrieden. Mit jedem Probenabschnitt steigt die Zuversicht, dass er nicht auf das Notprogramm zurückgreifen muss. „Wenn die schwierigen Stellen nicht funktionieren“, erklärt Homburg, „dann müssen meine Jungs eben alleine singen.“ Aber soweit kommt es nicht. Nach den Proben ist sich Homburg sicher: „Es wird alles gut.“

Die Bestätigung folgt am Nachmittag. Das Publikum im Beethovensaal ist begeistert. Tosender Applaus und ein Wort, das alles sagt, drückt dies aus: „Bravo!“ Die Stimmen des Chores haben das morgendliche Vakuum mit etwas gefüllt, was nur schwer zu beschreiben ist. Es ist das Gefühl, das Menschen haben, wenn sie Kunst erleben, die ins Herz dringt.