Das Atomkraftwerk Würgassen wird seit 14 Jahren rückgebaut. Der Betreiber zeigt die Dauerbaustelle.

Ist ein Kernkraftwerk abgeschaltet, geht die Arbeit erst richtig los. Die radioaktiven Brennstäbe zu entfernen, ist dabei noch die wenigste Arbeit. Aber wie verschwindet eine Nuklear-Anlage, die fast eine halbe Million Tonnen wiegt? Stück für Stück, in etwa schuhkartongroße Teile, 17 Jahre lang, für sehr viel Geld. Was der Ausstieg aus der Kernenergie bautechnisch bedeutet, kann der Bürger im Kernkraftwerk Würgassen in Nordrhein-Westfalen besichtigen. Dort wird seit 14 Jahren rückgebaut – und der Betreiber zeigt den Gästen gern eine der wohl teuersten und aufwendigsten Baustellen Deutschlands.

 

Der Eingang erinnert an die Sicherheitskontrolle am Flughafen; nur dass man dort nicht in der Unterhose steht. Peter Klimmek, Öffentlichkeitsreferent des KKW Würgassen, führt in das Innere der Anlage, Tür um Tür fällt ins Schloss. Leise schließen sich die Türen des Fahrstuhls, es geht nach oben. Hier wird nicht in Stockwerken gemessen, sondern in Meter Gebäudehöhe. Also nicht vierte Etage, sondern plus 14 Meter 30. Es ist die einzige Möglichkeit, in dem verschachtelten Reaktorgebäude den Überblick zu behalten. Von einer verlassenen Kanzel geht der Blick in den ehemaligen Reaktorbedienungsflur und das Brennelementelagerbecken, heute nur noch ein großes Loch im Beton. Einst lagerten dort die Brennstäbe mit dem Uranoxid.

Dieser Rückbau ist kein Abriss im herkömmlichen Sinne. Für Sprengstoff und Abrissbirne ist kein Platz; es ist eher Arbeit für Feinmechaniker. Die gröbsten Werkzeuge waren Plasmabrenner, damit wurde der den Reaktor umschließende Sicherheitsbehälter portioniert. Die nuklearen Anlagen im Inneren des KKW Würgassen sind inzwischen weitestgehend zerlegt und fortgeschafft. Im Jahr 2009 kam das Allerheiligste an die Reihe: das 17 Meter hohe Reaktordruckgefäß, ein reichlich unspektakulär aussehender Stahlzylinder. Da drin tobte einst das atomare Feuer. Auch dies längst Geschichte. Fast. Rund die Hälfte der 300 gesägten Stücke sind derart kontaminiert, dass sie in ein Endlager müssen.

Im Reaktorgebäude sind die Arbeiter damit beschäftigt, die Betonstrukturen im ehemaligen Sicherheitsbehälter zu zersägen. "Wir sind im Endspurt", sagt Peter Klimmek. Bis 2014 soll die Arbeit hier drinnen fertig sein, dann sollen die Gebäude zum Abriss freigegeben werden. Kabel baumeln an der Wand und führen nirgendwo hin, im Boden offene Schächte – leer. Ein verwaister Arbeitstisch und Pläne längst vergangener Tage verstärken die Atmosphäre von Verlorenheit und Endgültigkeit. Peter Klimmek führt in die riesige ehemalige Turbinenhalle, das Gebäude ist gewaltig wie eine Kathedrale. Ab und an schwebt ein Stück Stahl durch die Halle. Ansonsten Stahlkisten, Gitterboxen und Fässer in endlosen Reihen. Hier liegt das ausrangierte Kernkraftwerk in handlichen Stücken und wartet auf die Weiterverarbeitung, auf den Umzug in den Stoffkreislauf.

"Das Kernkraftwerk Würgassen wog 425000 Tonnen, 255000 davon gehören zum Kontrollbereich und müssen überwacht entsorgt werden", so Peter Klimmek. Rund ein Prozent der Gesamtmasse des KKW Würgassen ist derart kontaminiert, dass es als radioaktiver Abfall endlagergerecht entsorgt werden muss. Das macht rund 5000 Tonnen Atommüll – oder 10000 knallgelbe Fässer, die dereinst im Endlager Konrad unter der Erde verschwinden sollen. Das freigegebene Metall holen sich die Schrotthändler.

Kann man Wehmut für ein Kernkraftwerk empfinden? "Hier gibt es Mitarbeiter", sagt Klimmek, "die haben das Kraftwerk Anfang der 70er Jahre mit aufgebaut und arbeiten nun am Rückbau." Ein ganzes Arbeitsleben: abgewickelt, eingepackt, fortgeschafft.

Am Ende wartet Alexander Jurgeleit auf das, was einst Teil eines Kernkraftwerkes gewesen ist. Ein zentnerschweres Gewinde schwebt an einem Kran über seinen Arbeitsplatz. Jurgeleit führt das Messgerät. Der Geigerzähler schlägt zwar aus, bleibt aber im Normbereich. Zettel drauf, freigegeben. Wieder ist ein Stück des ausrangierten AKW einen Schritt weiter gekommen. Am Ende wartet die Freimessung, die Entlassung aus dem Atomgesetz. Passiert die Box diese letzte Schleuse, ist sie im Stoffkreislauf angekommen. Fast. Externe Gutachter messen ein allerletztes Mal nach – und dann ist wieder ein bisschen Kernkraftwerk gemäß §44 StrlSchV ganz normaler Schrott. Allerdings der wohl teuerste Schrott der Welt. Eine Milliarde Euro kostet der Rückbau des Atomkraftwerks Würgassen.

"Wir müssen dann auch", sagt Peter Klimmek und führt die Gruppe zurück zum Ausgangspunkt. Was für Schrott gilt, gilt auch für die Besucher: ausmessen. Jeder wird auf mögliche Kontamination kontrolliert. Vorab eine Schleuse, die in voller Montur passiert wird – grünes Licht, die Schranke öffnet sich.

Würgassen

Anreise
Würgassen liegt im äußersten Osten Nordrhein-Westfalens, zwischen Paderborn und Göttingen. Nächster Bahnhof ist Lauenförde. Das Kernkraftwerk liegt direkt am Radwanderweg Weserradweg.

Kernkraftwerk
1994 wurden im Kernmantel im Inneren des Reaktordruckgefäßes Haarrisse entdeckt. Der Austausch wäre zu teuer gekommen, so gab es keine Genehmigung zum Wiederanfahren des Reaktors – das KKW Würgassen wurde stillgelegt.

Führungen
Gruppen (10 bis 15 Teilnehmer, Mindestalter 18Jahre) können den Sicherheitsbereich des Kraftwerks und den Rückbau nach Vereinbarung besichtigen. Außerdem gibt es eine interessante Ausstellung zum Thema außerhalb des Kraftwerksgebäudes, die ohne Aufwand besucht werden kann, www.eon-kernkraft.com Die kostenfreien Führungen dauern bis zu drei Stunden. Die Technik ist weitgehend ausgeräumt, derzeit wird in großem Umfang die Oberflächen- und Gebäudedekontamination durchgeführt. Spannend und beeindruckend ist eine Führung durch die fast leeren Hallen des abgebauten AKW allemal. Die komplette Wäsche muss ausgezogen werden, angezogen wird kraftwerkseigene Bekleidung. Für weibliche Besucher gibt es eine separate Umkleide. Nach den aufwendigen Einschleusungsmaßnahmen gibt es keine Möglichkeit zum Toilettengang. Essen und trinken ist nicht erlaubt.

Sicherheit
In dem Komplex gibt es kein spaltbares Material mehr, dennoch sieht das Gesetz diesen Aufwand vor. Die Betreiber versichern, dass ein Rundgang nicht mehr Strahlenbelastung bedeutet als ein kurzer Flug. Die Dosimeter der Besucher werden amtlich ausgewertet.

Allgemeine Informationen
Städtisches Fremdenverkehrsamt, Weserstraße 10–12, 37688 Beverungen, Telefon 05273/392221.