Was dem Rheinländer der Karneval, ist dem Oldenburger seine Grünkohlfahrt. Nirgendwo frönt man dem vitaminreichen Wintergemüse mehr als hier.

Oldenburg - Im botanischen Garten leuchtet zwischen den Grünkohlstauden ein roter Wuschelkopf. Reinhard Lührings Haare kräuseln sich wie die Blätter der Kohlsorten, die ihn umgeben. Mit Ziegenbart und Creole im Ohr sieht er nicht gerade aus wie ein Landwirt und Pflanzensammler. Er lacht. Dabei hat er sich darauf spezialisiert, alte ostfriesische Kulturpflanzen vor dem Aussterben zu retten. Monatelang flitzte er mit dem Motorrad über norddeutsche Landstraßen, lugte über die Gartenzäune und hielt Ausschau nach alten Grünkohlarten. Viele davon wachsen dank seinem Spürsinn nun auch in den Schaubeeten des Botanischen Gartens in Oldenburg.

 

„Die Menschen besinnen sich langsam wieder auf alte Sorten wie Ditzum oder Busbunde. Jede schmeckt anders“, sagt Lühring. Zu seinen Füßen wächst auch der kommerzielle „Winnetou“ und ein meterhoher „Jellen“. Schon seit Generationen bauten die Einheimischen Grünkohl in ihren Gärten an. Am weitesten verbreitet war eine Staude mit Spitznamen „Oldenburger Palme“, die bis zu drei Meter hoch wird. Sobald der erste Frost die Felder mit weißem Flaum überzieht, wird der Grünkohl geerntet. Dann tauen die Oldenburger richtig auf. Sie packen ihren Bollerwagen mit Getränken und Boßelausrüstung und gehen auf Kohltour.

Dabei geht es nicht stracks an den gedeckten Tisch. Das Mahl muss man sich vorher mit „Boßeln“ verdienen, eine Sportart, die vielen Norddeutschen mehr bedeutet als Fußball und auf dem Lande sogar wieder Einzug in den Schulen gefunden hat. Dabei wird eine Kugel auf einer kilometerlangen Strecke mit möglichst wenigen Würfen ans Ziel befördert. Im Stadtpark am Flüsschen Haare weiht Stadtführer Bernd Munderloh eine Gruppe ins Boßeln ein: „Will man die Kugel um die Kurve nach rechts werfen, schubst man sie mit dem Daumen an, nach links mit dem kleinen Finger.“ Auch bei stärkerem Frost verbietet es sich, mit Handschuhen zu boßeln.

Das Boßeln existiert seit 200 Jahren

Kaum hat Bernd gewarnt, die 25 Euro teure Kugel nicht im Fluss zu versenken, rollt sie auch schon den Abhang hinunter auf Nimmerwiedersehen ins Wasser. Ein Schnaps aus dem „Pinnchen“ tröstet über den Verlust hinweg. Lachend folgt die Gruppe der nächsten Kugel. Das Boßeln existiert seit 200 Jahren. Ursprünglich ist es aus dem Klootschießen hervorgegangen. „Kloot sind eigentlich Lehmklumpen. Wenn sie im Winter gefroren waren, warf man sie um die Wette. Nach der Ernte hatten die Bauern früher Zeit dafür. Damals spielte Dorf gegen Dorf und Amt gegen Amt“, sagt Johann Hasselhorst, Vorsitzender des Klootschießerlandesverbandes. Wenn man den Armschwung perfekt auf die Kugel überträgt und im richtigen Moment loslässt, schaffen gute Spieler 70 bis 90 Meter Flugbahn, 106 Meter ist Weltrekord.

Jeden Sonntagmittag trifft sich Hasselhorst mit seinen Boßelkollegen, um eine Kugel zu schieben. Alkohol ist dabei tabu. Alle vier Jahre findet die Europameisterschaft statt. Dann rufen die Boßler ihren Schlachtruf in Plattdütsch: „Lüch up und fleu herut“ (Hebe auf und fliege weit). Inzwischen ist der Freizeitsport als „Cityboßeln“ auch stadtreif geworden. Bernd verbindet das gern mit einer Führung durch Oldenburg. Die Universitätsstadt mit etwa 160 000 Einwohnern liegt eine Stunde von Bremen entfernt. Direkt in der Innenstadt thront das Schloss, ein Schmuckstück mit gelb gestrichener, barocker Fassade, das heute das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte beherbergt. Obendrein trumpft das Städtchen mit der ältesten flächendeckenden Fußgängerzone Deutschlands auf.

1967 war es ein Novum, den gesamten Stadtkern für Autos zu sperren. Statt Resterampen und Fast-Food-Ketten dominieren hier kleine inhabergeführte Geschäfte mit guter Beratung und langer Tradition: Der Teeladen ist über 90 Jahre alt, das Schuhhaus 110 und der Lederladen 142. Die Sparkasse ist mit 228 Jahren die älteste der Welt. Die ehemalige Hofkonditorei besteht seit 1884. Hier backt Konditor Christian Klinge nicht nur leckere Torten, sondern auch mal einen Gag wie die Grünkohlpraline. Aus dem Geschäft von Helge Ehlers-Monsen duftet es nach deftigem Essen. Der Fleischer, der mit gegelten Haaren und Kastenbrille eher wie ein Software-Nerd aussieht, produziert das, was jedem Grünkohlessen den letzten Pfiff gibt: die Pinkel. Ihr Name - so eine Interpretation - stammt daher, dass sie beim Warmräuchern tropft (pinkelt).

Wer am meisten verdrückt, wird Kohlkönig

„Ja, sie ist so fett, dass manche sagen, man kann sie sich direkt auf die Hüften tackern“, lacht Ehlers-Monsen, der seiner Figur nach Hochkalorisches gut verträgt. Inzwischen liefert er die leckere Wurst in alle Welt - in Dosen oder vakuumverpackt per Online-Versand. Bernd isst mit seinen Gästen auf dem Land in einer echten Grünkohlwirtschaft. Schnell füllen sich die Teller mit Kohl und Pinkel. Wer am meisten verdrückt, wird Kohlkönig. Zur Siegerehrung erhält er ein Strickschweinchen um den Hals und muss im nächsten Jahr die Kohlfahrt organisieren. Die Kohlfahrten waren im 18. Jahrhundert dem Adel und reichen Herrschaften vorbehalten.

Erst 1859 begründete der Oldenburger Turnerbund mit seiner Vereinswanderung ins Dörfchen Wievielstede die Kohlfahrt für jedermann. Inzwischen erhält auch die Politikerprominenz in Berlin einmal im Jahr das „Defftig Ollnburger Gröönkohl Äten“. Zuletzt bekam der türkische Außenminister den Titel Kohlkönig. Für den Moslem wurde die Zutatenlisten etwas erweitert: Statt Schweinefleisch servierte man auch Hühnchen und Vegetarisches. Die Oldenburger arbeiten schon länger daran, das Bauernschmaus-Image des Grünkohls aufzupolieren. Gourmet-Koch Jochen Thoss hilft dabei, indem er Kochkurse für Winnetou und Co. veranstaltet.

Dabei lernt man den Kohl von einer ganz anderen Seite kennen - als zartes Asiagemüse oder schmackhaften Salat mit Granatapfelkernen. Damit hat das vitaminreiche Kraut schon Einzug in die Slow-Food-Küche gehalten. Wer noch tiefer in die Grünkohlhauptstadt Deutschlands eintauchen will, kann auf einer Website in humorvoller Weise das Gemüse und seine Geschichte studieren. Zum Abschluss lockt dann ein Grünkohldiplom.

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Infos zu Oldenburg

Anreise
Mit der Bahn: Die Fahrt von Stuttgart bis Oldenburg (Umsteigen in Frankfurt) dauert knapp sechs Stunden. Vom Oldenburger Hauptbahnhof sind es etwa 15 Minuten zu Fuß in die Innenstadt, www.bahn.de

Unterkunft
Das 4-Sterne-Hotel Altera mit Designerzimmern und Weinbar liegt direkt an der Fußgängerzone. Eine Nacht mit Frühstück kostet ab 126 Euro im Doppelzimmer, www.altera-hotels.de

Das 3-Sterne-Hotel Wieting ist seit 120 Jahren in Familienbesitz. Doppelzimmer ab 96 Euro inklusive Frühstück, www.hotel-wieting.de

Essen und Trinken
Der Bümmersteder Krug gehört zu den ältesten Kohlfahrt-Gaststätten. Wirt Erwin Abel bekocht jedes Jahr die Politprominenz in Berlin beim traditionsreichsten „Defftig Ollenburger Gröönkohl Äten“, www.buemmersteder-krug.de Wer nach so viel Würzigem etwas Süßes braucht: Den besten Kuchen gibt es im Traditionscafé Klinge. Witzige Idee: Konditormeister Christian Klinge hat eine süße Grünkohl-Praline kreiert, www.cafe-klinge.de

Freizeittipps
Cityboßeln durch Oldenburg, 1,5 Stunden sechs Euro pro Person (Gruppen 79 Euro), Infos unter www.oldenburg-tourist.de

Im botanischen Garten kann man u. a. viele verschiedene Grünkohl-Sorten von Winnetou bis halbhoher Krauser anschauen, www.uni-oldenburg.de/botgarten/

Das Theater Laboratorium ist eines der beliebtesten Puppentheater - auch für Erwachsene. Für die Stücke mit Tiefgang wie „Bremer Stadtmusikanten“ muss man lange im Voraus Plätze reservieren, www.theater-laboratorium.de

Wenn es draußen fürs Boßeln zu stark regnet, kann man im Internet an der „Grünkohlakademie“ sein Kohldiplom machen. Die humorvollen Wissensfragen drehen sich rund um das grüne Gemüse und seine Geschichte, www.gruenkohl-akademie.de

Allgemeine Informationen
Oldenburg Tourismus und Marketing GmbH, Schlossplatz 16, 26122 Oldenburg, www.oldenburg-Tourist.de

Im kommenden Jahr wird die Grünkohlsaison offiziell am 21. November eröffnet - mit vielen Grünkohlangeboten und einem Bollerwagenwettbewerb in der Innenstadt. Vom 24. bis 25. Januar 2015 findet die Regionalmesse Aufgetischt in Oldenburg statt.