Auf der ostfriesischen Insel Spiekeroog wächst im Zeitraffer neues Terrain - und die Touristen können bei diesem erstaunlichen Vorgang zusehen.

Spiekeroog - Das Netz klatscht aufs Wasser. Biologin Swaantje Fock fischt in einem Priel herum, bis sich der Becher am Ende mit einer trüben Brühe füllt. Als ob es an ihrem Arbeitsplatz nicht schon nass genug wäre. Es gießt wie aus Kübeln. Der Wind pfeift mächtig. Man hört das Meer donnern. Nordsee-Tage wie diesen ist die Wissenschaftlerin gewohnt. Sie schüttet den Inhalt des Bechers in ein Schraubglas, verstaut es im Rucksack und stapft weiter mit Gummistiefeln durch eine kilometerweite, baumlose Ebene. Ihre Besucherin hinterher. Durch Sträucher, Kräuter und Strandhaferbüschel, und statt Strand sieht sie eine wilde Salzwiese mit niedrigen, bunt blühenden Blumenkissen, mit Moosen, Flechten, Wassergräben. Sie hört nie gehörte Vogelrufe, spürt die Kraft von Disteln, die sie sanft in die Hand piksen, lässt sich durchpusten. Wunderbar. Es muss nicht immer Strandurlaub sein, denkt sie. Spiekeroog hat gerade im Herbst seinen Reiz. Das alles hier, sagt Swaantje Fock, erinnere sie ein bisschen an eine Savannenlandschaft. „Es berührt mich jedes Mal wieder, eine von Menschen unberührte Natur zu betreten.

 


Dies ist ein ganz besonderer Teil des Nationalparks Wattenmeer. Hier im wilden Osten von Spiekeroog kann man im Zeitraffer erleben, wie eine Insel entsteht.“ Auch Touristen können das - am besten bei einer naturkundlichen Wanderung. Jetzt stellt die junge Frau ihr Spektiv, ein superstarkes Fernglas, vor einem anderen Priel im Watt ab und schöpft wieder mit ihrem Netz Wasser mit Kleinstlebewesen heraus. „Sieht sehr lebendig aus da drin.“ Auf Spiekeroog zu arbeiten, wo viele andere Urlaub machen, das gefällt ihr hundertmal besser als in einem Labor. Knapp zwölf Kilometer lang und höchstens 2,5 Kilometer breit, ist Spiekeroog mit fast 20 Quadratkilometern die viertgrößte der sieben Ostfriesischen Inseln und wird eingerahmt von Langeoog im Westen und Wangerooge im Osten. Gerade mal 820 Insulaner leben hier, das ist selbst für diese Größe ziemlich wenig. Es gibt keine Prachtbauten oder Strandboulevards, keine Autos und noch nicht mal einen Fahrradverleih, dafür aber ein verträumtes Inseldorf, nette Geschäfte und gemütliche alte Friesenhäuschen mit verglasten Veranden und gepflegten Gärten. Und sehr viel Natur - mit einem der wichtigsten Nordseebiotope: die Ostplate, ein zugewanderter neuer Inselteil, wo Swantje Fock gerade unterwegs ist: „Man muss sich vorstellen: 1950 war hier noch eine nackte Sandbank.


Häufig werden neue Inseln auch von unterseeischen Vulkanen geboren

Inzwischen hat sich ganz von allein eine einmalige Salzwiesen- und Dünenstruktur entwickelt mit einer tollen Tier- und Pflanzenwelt. Sonst so seltene Pflanzen wie Stranddisteln und Queller, Strandflieder und Salzastern gedeihen hier in großer Zahl. Und so viele Insekten und Vogelarten! Eiderenten, Austernfischer, Silbermöwen, Graugänse, Löffler.“ Die Gäste staunen indessen über die Kräfte der Natur. Man macht sich ja sonst nie Gedanken über die Geburt einer Insel. Sie entsteht auf ganz verschiedene Arten, sagt Swantje Fock, die das Nationalpark-Haus Wittbülten an der Hermann-Lietz-Schule leitet. Sie kann aus Abspaltungen von Festland hervorgehen, wie die Nordfriesischen Inseln. Wenn sich in der Nähe der Küste eine Erhebung befindet und ein steigender Meeresspiegel die Küste überflutet, kann auch dieser Hügel irgendwann als Insel aus dem Wasser hervorragen - so wie die Schären vor Norwegen und Schweden. Häufig werden neue Inseln auch von unterseeischen Vulkanen geboren: Sie speien Gestein aus dem Inneren der Erde an die Oberfläche, wie zum Beispiel bei Hawaii. Passt alles nicht auf die Ostfriesischen Inseln: Sie haben sich aus Sandbänken, die der Wind anwehte und die Wellen anspülten, im Laufe der letzten 5000 Jahre entwickelt. Früher bestand auch der ältere Teil Spiekeroogs fast nur aus unbefestigtem Sand.


Es gab weder Baum noch Strauch und der Sturm blies den Sand, wohin er wollte. Doch die Spiekerooger legten seit 1862 Wäldchen an. Diese hielten den Sand fest und stabilisierten die Insel. Die Bepflanzung mit Strandhafer an den Außendünen hilft zusätzlich, wie auch Spundwand und Buhnen am Sturmeck: An ihnen ging die Insel dauerhaft vor Anker. Es folgten weitere Gräserarten und buschige Krähenbeerheide. Sie überzogen die Dünen mit einem immer dichteren Teppich und befestigten so die Insel immer weiter. Wieso aber wuchs sie so stark an ihrem östlichen Ende - seit 1860 um mehr als die Hälfte? Und wieso erst jetzt? Die Biologin freut sich über das Interesse und beantwortet alle Fragen geduldig. Das liegt an der Harlebucht, ursprünglich eine rund 15 Kilometer breite und zehn Kilometer ins Landesinnere, fast bis zum heutigen Jever reichende Meeresbucht vor Spiekeroog. Als man diese Bucht ab dem 15. Jahrhundert schrittweise eindeichte, wurde die Wattfläche südlich entsprechend kleiner. „Die Deiche rückten näher an die Küste, weil die Menschen mehr Platz haben wollten zum Leben.“ Dadurch aber nahm die Menge des Wassers ab, das bei Ebbe und Flut durch die Strömungsrinne zwischen Spiekeroog und Langeroog, das Seegat, fließen konnte. Und wenn in diesem Durchlass die Strömung abnimmt, kann auch mehr Sand anlanden. Das passierte reichlich, parallel zur Küste, und Spiekeroog bekam neues Land. Die Ostplate ist jetzt schon fast sieben Kilometer lang. Wie es nun ohne menschliches Eingreifen weitergeht mit der Inselbildung, das ist auch für die Wissenschaftler noch ein Rätsel. Werden sich die Dünen weiter entwickeln und höher wachsen, oder ist nicht genug Sand dafür da? „Das zu beobachten ist spannend“, sagt Biologin Fock.

Infos zu Spiekeroog

Spiekeroog


Anreise

Da die Insel Fußgängerzone ist, muss man sein Auto in Neuharlingersiel parken, wo auch die Fähren ablegen. Wegweiser führen dort zu den Spiekeroog Garagen am östlichen Ortseingang (Cliener Straat 16, Tel. 0 49 74 / 99 02 96), von dort zehn Fußminuten zum Hafen. Die Fähren gehen dreimal am Tag.
In der Nebensaison eingeschränkter Fährverkehr. Buchung unter www.spiekeroog.de


Unterkunft

Lummerland, Ferienwohnungen im modernen Landhausstil, ab 120 Euro, Gartenweg 18, Anfragen unter Tel. 01 77 / 7 82 31 26, www.lummerland-spiekeroog.de ;
Hotel zur alten Inselkirche, mit schönem Frühstücksraum und teilweise nostalgisch eingerichteten Zimmern, DZ/F ab 100 Euro, Norderloog 4, Tel. 0 49 76 / 9 10 50, www.kroeger-spiekeroog.de


Sehenswert / Ausflüge

Das Nationalpark-Haus Wittbülten an der Hermann-Lietz-Schule bietet im Herbst vogelkundliche Führungen und Exkursionen zur Ostplate an, im Ausstellungsraum geht es um die Tier- und Pflanzenwelt der Insel, www.nationalparkhaus-wittbuelten.de .
Spaziergänger können auf sechs Thalasso-Therapiewegen das Reizklima des Nordseeheilbads auf sich wirken lassen, www.spiekeroog.de


Essen und Trinken

Im Inselcafé schmecken hausgemachte Sanddorntorte und Ostfriesentees, Noorderloog 13, Tel. 0 49 76 / 91 20 10, www.inselbaeckerei.de ;
im urigen Capitänshaus fangfrische Kutterschollen mit Petersilienbutter und Salzkartoffeln oder andere Nordsee-Fische, Noorderloog 11, www.capitaenshaus-spiekeroog.de ,
die Lage der Kultkneipe Laramie ist einzigartig, Westend 5, www.oldlaramie.de


Was man tun und lassen sollte

Auf jeden Fall sollte man im neuen Inselbad mit großem Nordseewasser-Schwimmbad entspannen, viele Anwendungen, www.spiekeroog.de/spiekeroog-erleben/inselbad-duenenspa.html .
In der Brutzeit und abseits der Wege sollte man auf keinen Fall durch die Ostplate stapfen.