Johan Simons inszeniert im Thalia-Theater die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz. Der Abend lebt von der Kraft der Genauigkeit – und dem Schauspieler Jens Harzer.

Stuttgart - Das Wattenmeer lebt: Möwengeschrei dringt aus dem Off in den Saal, dazu das Klackern von Rohrdommeln und das Knarzen von Fischkuttern, die im Hafenbecken schaukeln. Noch aber herrscht finstere Nacht im Theater, noch ist das hörbare Küstenidyll nicht sichtbar – und erst als der in einer Hamburger Jugendstrafanstalt einsitzende Siggi Jepsen sein Feuerzeug anknipst, kommt Licht ins Dunkel der Bühne, das auch ein Dunkel der Erinnerung ist. Denn während sich Siggi mit zögernden Worten an die Ereignisse herantastet, die sich 1943 in dem Dorf Rugbüll zugetragen haben, taucht aus dem Zwielicht lemurenhaft sein Vater auf, der in jenem Dorf der „nördlichste Polizeiposten Deutschlands“ war: ein Geist der bösen Art, der jetzt, im Jahr 1954, auch dafür gesorgt hat, dass sein Sohn eingelocht wurde. In einer Einzelzelle sitzend, muss Siggi einen Aufsatz über die „Freuden der Pflicht“ schreiben. Und indem der Knacki diese zynische Aufgabe über Monate hinweg erfüllt, schafft er die Rahmenhandlung für einen Roman, der weltweit zum Bestseller wurde: die „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz.

 

Dass diese Lenz-Prosa irgendwann zum Drama umgemodelt werden würde, war nur eine Frage der Zeit. Der Stoff, den der vor wenigen Wochen mit 88 Jahren verstorbene Schriftsteller auf mehr als fünfhundert Seiten ausbreitet, ist zu verführerisch, um ihn sich zu entgehen lassen: Alltag in der NS-Zeit, unters Mikroskop gelegt von einem detailbesessenen Autor, der die Mikrostrukturen von Befehl und Gehorsam frei legt und einbindet in eine zerstörerische Familiengeschichte – solch süffiges Erzählmaterial wird vom heutigen Theater im Handumdrehen dramatisiert und inszeniert, wobei es mal zu mehr, mal zu weniger Verlusten kommt. Anders als zuletzt im Stuttgarter Schauspiel halten sich die Verluste, diese über die Maßen schmerzenden Einbußen an Verständlichkeit, Vergnügen und Erkenntnis, im Hamburger Thalia-Theater jetzt aber in Grenzen: Die „Deutschstunde“ bleibt nachvollziehbar, immerhin.

Simon trumpft nicht auf, sondern schleicht sich heran

Zu danken ist das der brauchbaren Textfassung von Susanne Meister. Aus dem gewaltigen Erzählstrom des Autors gewinnt die Dramaturgin eine Vielzahl kleiner Monolog- und Dialoginseln, die sie sinnvoll miteinander verbindet – und dass Sinn und Handlung auch in der Inszenierung nicht absaufen, liegt an der behutsamen Regie von Johan Simons. Der Intendant der Münchner Kammerspiele ist als Gast an die Waterkant gereist. Und er trumpft dabei nicht auf, sondern schleicht sich ran, er arbeitet nicht mit lauten Symbolen, sondern mit leisen Hinweisen – und er bringt, um Rugbüll im Jahr 1943 zu vergegenwärtigen, kein Hakenkreuz auf die Bühne, sondern ein Schiff.

Während der inhaftierte Siggi also seinen Vater als Gespenst im Nacken sitzen hat, bricht allmählich der Tag an. Aus dem Bühnenzwielicht schälen sich weiß getünchte Planken, die sich zu einem aufgeschnittenen Schiffsbauch formen. Zum Bug hin spitz zulaufend, beherbergt der Rumpf die Leute von Rugbüll. Starr gekrümmt liegen und hängen sie in den Brettern, schlaflos und tot, sie sind gekreuzigte Schiffbrüchige der Erinnerung, die nun ihrerseits zum Leben erweckt werden und in Siggis Kopfkino erscheinen: Mutter Gudrun Jepsen, die von Gabriela Maria Schmeide als Opportunistin in eiskalter Korpulenz verkörpert wird; Schwester Hilke Jepsen, der Franziska Hartmann einen unbändigen Lebenswillen verleiht; Bruder Klaas Jepsen, den dieser Lebenswille zum Deserteur macht und den Sebastian Zimmler mit der fiebrigen Energie eines Kriegsveteranen ausstattet. Und last not least regen sich auch jene beiden Männer, zwischen denen der damals neunjährige Siggi hin und her gerissen ist: sein Vater, der Polizist Jens Ole Jepsen, und der mit ihm befreundete Maler Max Ludwig Nansen, von Lenz einst nach dem Vorbild Emil Nolde modelliert.

Rededuelle voller Intensität

„Weniges liegt so wohlverwahrt im Tresor meiner Erinnerung wie die Begegnungen zwischen diesen beiden Männern“, sagt Siggi. Und just aus dieser Kraft und Genauigkeit bezieht nun auch die im düsteren Tragödienton gehaltene Inszenierung von Johan Simons ihre Stärke: aus den Rededuellen zwischen Polizist und Maler, gespielt von Jens Harzer und Sebastian Rudolph, die sich abermals als Meister der Intensität erweisen. Je mehr sie ihre Figuren zurücknehmen, also nach innen spielen, desto heftiger katapultieren sie deren Stimmungen, Gedanken und Ängste nach außen in jede Faser ihres Körpers – und ihre Körper gleichen sich, hager und hochgeschossen begegnen sie sich wie Brüder, die das Schicksal zu Feinden gemacht hat. Jens überbringt Max das über ihn verhängte Malverbot und überwacht es, er führt die Beschlagnahmung seiner Bilder durch und liefert den renitenten Künstler der Gestapo aus. Er ist ein Monster der Pflichterfüllung.

Aber stopp: Ist der „nördlichste Polizeiposten Deutschlands“ wirklich ein Monster? Harzers Leistung besteht darin, seinen Jens Ole Jepsen gerade nicht zu dämonisieren. Der Bulle von Rugbüll bleibt in seiner virtuosen Darstellung ein armer Kleinbürger, der das Kreuz durchdrückt und schwer atmet, ein phlegmatisch vor sich hin brütender Pflichterfüller, der sich in seiner Ratlosigkeit in linkische Verlegenheitsgesten flüchtet. Am Bund zieht er die Hosen nach oben, am Schritt nach unten – und so wenig wie in seinen Kleidern fühlt er sich in seiner Haut wohl, dieser Dorfpolizist, der das Leben an sich als Kränkung empfindet und sich dafür an eben diesem Leben rächt, indem er seine Sekundärtugenden von der Leine lässt. Solche Menschen, das dämmert uns, gibt es auch heute noch – insofern, dank Jens Harzer, also doch ein kleiner Erkenntnisgewinn in der „Deutschstunde“, die in Hamburg unterm Strich zwar solide, aber nicht aufregend abgehalten wird.

Aufführungen am 3., 21. und 26. Dezember.