Erdogan lässt Wahlkampf machen in Deutschland. Viele türkeistämmige Menschen hierzulande finden das gut und unterstützen den türkischen Staatspräsidenten. Das wirft die Frage auf, wie es um ihren Integrationswillen steht. Ein Sozialwissenschaftler gibt Antworten.

Stuttgart - Der türkische Staatspräsident lässt Wahlkampf machen in Deutschland. Viele türkeistämmige Menschen hierzulande finden das gut und unterstützen den AKP-Politiker. Das wirft die Frage auf, wie es um ihren Integrationswillen steht. Der Dortmunder Forscher Ahmet Toprak gibt Antworten.

 
Herr Toprak, das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei hat einen Tiefpunkt erreicht. Viele Deutsche mit türkischen Wurzeln stellen sich in dem Konflikt auf die Seite des türkischen Präsidenten Erdogan. Überrascht Sie das?
Nein, das überrascht mich nicht. Seit Jahren forsche ich zu den konservativen Milieus von Menschen in Deutschland, die aus der Türkei stammen. Eigentlich wären sie eine gute Zielgruppe für die CDU, aber die CDU hat es nicht geschafft, sie zu gewinnen. Viele dieser Menschen sehen sich selbst in Erdogan.
Inwiefern?
Er stammt aus einer einfachen, muslimisch-frommen Familie und gilt als Fürsprecher all jener, die sich nicht mitgenommen fühlen durch die kemalistischen Reformen seit den 1920er Jahren. Er hat die Religiosität wieder in den Mittelpunkt gestellt. Mit dem Kopftuch kann man wieder studieren und die Nachrichten im Fernsehen moderieren. Zudem ist Erdogan wirtschaftlich lange erfolgreich gewesen und hat das Militär in seine Schranken gewiesen. Das gibt seinen Anhängern ein Gefühl der Stärke, das sie lange vermissen mussten. Auch deshalb wird er von ihnen wie ein Popstar verehrt.
Welche Deutschtürken sind besonders empfänglich für Erdogans Signale?
Es sind vor allem die Frommen und Religiösen, viele von ihnen sind durch Bildung aufgestiegen, erfolgreich und orientieren sich an der Mittelschicht. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass es sich nur um Menschen handelt, die es nicht geschafft haben, etwa weil sie bildungsmäßig abgehängt sind. Deshalb halte ich auch nicht viel von der These, dass Erdogan vor allem bei Menschen punkten kann, die nicht gut integriert sind. Das ist viel zu einfach gedacht.
Noch einmal anders gefragt: Was sagt es aus über den Integrationswillen, wenn so viele Menschen, die schon lange in Deutschland leben, über Erdogans Verfassungsreferendum abstimmen wollen, also die Geschicke der Türkei beeinflussen wollen?
Ich möchte dazu einige Zahlen nennen. Es gibt in Deutschland rund drei Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen. Ein Großteil ist eingebürgert, ein Teil hat zwei Pässe, ein beträchtlicher Teil hat nur den türkischen Pass. Das bedeutet, etwa 1,3 Millionen türkeistämmige Menschen sind in der Türkei wahlberechtigt. Von denen haben sich bei der Parlamentswahl 2015 nur 40 Prozent registrieren lassen. Von denen wiederum haben 60 Prozent Erdogan gewählt, also ungefähr 300 000 Menschen.
Worauf wollen Sie hinaus?
Man muss sich fragen, warum Erdogan für vergleichsweise wenige Stimmen einen so hohen Aufwand betreibt. Meine These ist: Er will mit seinem provokativen Wahlkampf in Deutschland und Europa vor allem von den wirtschaftlichen Problemen in der Türkei ablenken. Am liebsten wäre es ihm, wenn Kanzlerin Merkel ein Einreiseverbot für türkische Politiker verhängen würde.
Warum?
Erdogan könnte sich dann erst recht als Opfer gerieren, zugleich aber der deutschen Politik die Stirn bieten und Stärke demonstrieren. Das würde vielen Deutschtürken das Gefühl geben, ja, wir sind wieder wer, wir können wieder selbstbewusst sein. Das Gefühl, minderwertig zu sein, haben viele in Deutschland erlebt, ob berechtigt oder nicht, das können wir im Einzelfall nicht wissen.
Wenn wir davon ausgehen, dass es Deutschtürken gibt, die Erdogan anhängen und nicht integriert sind – woran scheitert ihre Integration?
Bei der dritten Generation von türkeistämmigen Menschen in Deutschland geht es meines Erachtens nicht mehr um Integration, sondern um gesellschaftliche Teilhabe. Viele sind frustriert, weil sie das Gefühl haben, nicht mitgestalten zu können. Offensichtlich gibt es immer noch viele Hemmschwellen. Das Bildungssystem etwa bietet formal gleiche Chancen für alle. In der Praxis jedoch sieht es anders aus. Menschen mit Migrationshintergrund sind benachteiligt, man muss sich intensiver um sie kümmern.
Was können Migranten selbst tun?
Eltern wissen oft nicht, dass sie darauf achten müssen, dass ihr Kind mitkommt. Viele türkische Eltern glauben, ihre Verantwortung hört auf, wenn die Schule beginnt.