Deutsche mit türkischen Wurzeln sind ein Teil der Gesellschaft. Neuerdings fühlen sich viele so, als wolle diese Gesellschaft das nicht.

Berlin - Aylin Selcuk hat ein Urlaubssemester beantragt. Sie will sich mal umschauen, in San Francisco zum Beispiel. Selcuk will wissen, ob das vielleicht ein guter Ort zum Leben ist. "Ich hätte nie gedacht, dass ich auf den Gedanken komme, aus Deutschland wegzugehen", sagt die 21-Jährige. "Aber die vergangenen Monate haben viel verändert. Ich fände es einfach angenehm, mich nicht für meine Herkunft rechtfertigen zu müssen." Auf einmal muss sie das nämlich. "Aus meinem Migrationshintergrund ist ein Vordergrund geworden, ohne dass ich irgendetwas dazu getan habe." Aylin Selcuk ist in Berlin geboren und aufgewachsen, ihre Eltern kommen aus der Türkei. "Alles an mir ist deutsch", sagt sie. Gerade hat sie ihr Physikum in Zahnmedizin absolviert. Selcuk weiß, dass sie die Vorzeigemigrantin ist: gebildet, politisch engagiert und mit Karrierepotenzial.

Die britische Zeitung "The Economist" hat sie vor einer Weile als "die vielleicht erste künftige Bundeskanzlerin mit türkischem Namen" gefeiert. Selzcuk ist die Gründerin des vielfach ausgezeichneten Vereins "DeuKische Generation", der sich in Berlin für Integration einsetzt. "Wir wollten selbst aufstehen und etwas gegen das falsche Image von Einwanderern tun."

Im Moment allerdings hat sie mehr denn je das Gefühl, dass all diese Arbeit umsonst ist. Aylin Selcuk sitzt in einem Kaffee im Berliner Westen, sie kommt gerade von der Uni. Sie spricht ruhig und betont sachlich, wenn sie die Thesen von Thilo Sarrazin auseinandernimmt. Sie hat ihn wegen Volksverhetzung angezeigt. Sie versucht, wo immer es geht, sich zum Streit um die Integration zu äußern. "Dabei hätten wir jungen Leute ja eigentlich eine Menge spannender Sachen zu tun, ganz normale Sachen eben, oder?" Selcuk will das Thema nicht persönlich nehmen, sondern politisch. Aber geht das noch?

Auf einmal das Gefühl, unerwünscht zu sein


"Da ist eine Welle ausgelöst worden, die nicht mehr aufzuhalten scheint. Migrantenschelte ist jetzt schick. Auf einmal wird man von allen Seiten angeschossen: Migranten sind Sozialschädlinge, Straftäter, genetisch minderbemittelt und deutschfeindlich." Aylin Selcuk hat das Gefühl, als gehe es nur noch darum, sich gegenseitig mit Horrorgeschichten zu überbieten. "Wir haben gedacht, wir sind so weit, dass man die Worte Migranten und Potenzial in einem Satz verwendet. Aber jetzt muss ich mich eher damit auseinandersetzen, dass die Menschen denken, ich sei für Ehrenmorde und Zwangsheirat. Das ist ein Schlag ins Gesicht." Über ihren Glauben traut sie sich schon nicht mehr zu sprechen.

Die junge Frau berichtet von einem Klima der Angst. "In meinem Freundeskreis reden wir fast nur noch darüber, wie unwohl man sich inzwischen fühlt." Neulich, als die türkische Basketballmannschaft im Halbfinale der WM stand, wollte sie mit einer Freundin und der türkischen Flagge auf den Ku'damm zum Feiern. "Meine Mutter wollte uns nicht rauslassen. Die Stimmung sei zu feindlich, fand sie." Dieses Gefühl war neu für Aylin Selcuk. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich bei allen Konflikten zu Integration immer sicher gefühlt. Aber jetzt registriert Selcuk, wie ein politischer Grundkonsens zu schwinden scheint: "Diesmal", sagt sie, "ist es anders. Die Hetze kommt von oben."

"Das hier ist mein Leben


Zu den Sätzen, die wehtun, gehören solche wie der von Horst Seehofer, wonach sich Türken generell schwerer mit der Integration tun. Wenn es so wäre, dann könnte Cengiz Tanriverdio sich als kleine Sensation feiern. "Ich wurde im Februar 1969 in einer Scheune in Anatolien geboren", sagt Tanriverdio. Er kennt nicht mal sein genaues Geburtsdatum, die Familie war arm und wohl auch das, was man heute bildungsfern nennen würde. Zwei Monate später ging der Vater nach Deutschland, später holte er Frau und Kind nach. Als Cengiz in Berlin-Wedding eingeschult wurde, konnte er kein Wort Deutsch. "Ohne Bewertung" stand jahrelang im Zeugnis. "Meine Sprache war eher Gewalt. Ich hab halt zugeschlagen." Irgendwie fand Tanriverdio dann seinen Weg - "trotz der Gene", sagt er und grinst. Abitur im zweiten Bildungsweg, nachts Taxifahren, tagsüber Schule, berufsbegleitendes Studium.

Heute ist er Sozialarbeiter in Nord-Neukölln. Seine Klientel: arabische und türkische Jungs aus einem der ärmsten Viertel der Hauptstadt. Tanriverdio ist Integrationsexperte. Und er findet, das Land brauche dringend Debatten. "Aber es ist für mich doch sehr erstaunlich, dass es ein paar Scharfmachern gelingt, dass nun alles über einen Kamm geschoren wird." Er denkt lange nach, bevor er seine Gefühle beschreibt. "Thilo Sarrazins Thesen habe ich nicht so ernst genommen. Aber was mich wirklich erschreckt hat, ist der Zuspruch, den er in der Gesellschaft erhält." Auf einmal fühle er sich unter Generalverdacht. Eher Ratlosigkeit als Wut spürt Tanriverdio: "Ich frage mich vor allem: was soll das? Ich bin Teil dieser Gesellschaft, ich lebe hier, ich bin wie jeder andere. Ich bringe meine Tochter zur Gitarrenstunde, ich versuche, meinen Alltag zu bewältigen und etwas aus meinem Leben zu machen. Ich zahle meinen Strafzettel, wenn ich falsch parke. Nach den 41 Jahren frage ich mich auf einmal, wie ich von den anderen wahrgenommen werde." Er habe auf einmal das Gefühl, in einer Gesellschaft zu leben, die nicht wirklich wünscht, dass er hier ist. "Aber ich gehe hier nicht weg. Wohin auch? Dies hier ist mein Leben."