Die Diakonie Stetten hat die Erfahrungen ihrer Mitarbeiter mit Bewohnern in einem praktischen Leitfaden für ethische Entscheidungen im Alltag zusammengestellt. Auf mehr als 30 Seiten gibt es Orientierungshilfen.

Stetten - Viele schwerstbehinderte Bewohner der Diakonie Stetten können sich mündlich nur schwer äußern und die Folgen von Entscheidungen kaum einschätzen. Doch vor allem in Fragen der Gesundheit geht es oft um eine Abwägung des Patientenwillens und -wohls. „Die zentrale Frage lautet, wie erkennen wir den Willen eines Menschen durch nonverbale Ausdrucksverhalten“, sagte Annette Riedel von der Fachhochschule Esslingen, Professorin mit den Fachgebieten Pflegewissenschaft und Ethik. Die Diakonie Stetten hat jetzt als eine der ersten Behinderteneinrichtungen eine „Handreichung zur ethischen Reflexion“ herausgebracht. Auf mehr als 30 Seiten gibt es Orientierungshilfen, die ethische, juristische und fachliche Perspektiven vereinen.

 

Das Papier stammt von Mitgliedern des Ethikkomitees

Erstellt wurde das Papier, das am Mittwoch im Sommersaal vorgestellt wurde, von Mitgliedern des Ethikkomitees der Diakonie Stetten. „Wir sehen uns als Ansprechpartner für alle, egal ob Mitarbeiter, Bewohner oder Familienangehörige“, sagte Pfarrer Matthias Binder, der Vorsitzende des Komitees, in dem Vertreter aus allen Fachbereichen, der Angehörigen sowie der Menschen mit Behinderung sitzen.

Für Mitarbeiter bedeutet das eine Erleichterung

Täglich seien die Mitarbeiter von Sozialunternehmen mit Fragen und Entscheidungen konfrontiert, die von großer Tragweite sind, weil sie die Menschen betreffen, die ihnen anvertraut sind, und deren Leben eine bestimmte Richtung geben, sagte Binder. Alle Bereiche seien betroffen, angefangen bei der Lebens- und Freizeitgestaltung, über Schule und Beruf bis hin zu medizinischen Behandlungen. „Früher galt, der Mensch versteht das sowieso nicht, also entscheiden wir für ihn“, sagte Pfarrer Binder. Mit der ethischen Handreichung als Entscheidungsgrundlage soll sich das ändern, denn es stärke und sichere vor allem das Selbstbestimmungsrecht in Bezug auf Gesundheitsfragen. „Es ist wichtig, dass wir unser Bewusstsein für ethische Fragestellungen schärfen und zu begründeten Entscheidungen kommen, die den Menschen, die wir begleiten, gerecht werden.“ Auch für die Mitarbeiter und gesetzlichen Vertreter bedeutete dies eine Erleichterung. „Damit steigt die Lebensqualität aller Betroffenen“, sagte Binder.

Meike Jacobs, Diplom-Theologin und -Sozialpädagogin in der Diakonie, ist der Fall einer 94-jährigen Frau im Gedächtnis. Es sei eine Amputation angestanden, der gesetzliche Vertreter hatte bereits eingewilligt, doch die Betreuer äußerten Bedenken. „Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass die Frau Arztbesuche und Behandlungen als sehr unangenehm empfand, und genau darum geht es: den Selbstausdruck von Menschen mit Behinderung ernst zu nehmen.“ Die von der Leitung der Wohngruppe hinzugeholte Ethikkommission empfahl, keine Operation vorzunehmen, sondern die Seniorin in ihrer gewohnten Umgebung schmerzlindernd zu pflegen. „Dort ist sie dann später liebevoll begleitet und friedlich gestorben.“

Die Basis für ethische Reflexion sind die erfassten Willensäußerungen der Bewohner, sei es durch Mimik oder Körperhaltung. Für Fallbesprechungen stehen 14 Mitarbeiter zur Verfügung. Den Angehörigen oder gesetzlichen Vertretern werde die Verantwortung damit aber nicht genommen, sagte Friedrich Kramer, der Leitende Arzt des Gesundheitszentrums Kernen: „Sie wird nur geteilt, und das macht es einfacher.“