Der Umbau des Bahnknotens ist auch eine logistische Herausforderung. Allein aus der City werden acht Millionen Tonnen Material abtransportiert - aber wohin? Ein Reisebericht.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Die Reise beginnt mit einem dumpfen Knall. Es ist Dienstagmorgen, wenige Minuten nach sieben Uhr. „Wir schießen gleich“, hat Stefan Eberl kurz zuvor angekündigt. Der Österreicher ist an diesem Morgen Schichtleiter auf der Stuttgart-21-Baustelle neben dem Portal des Wagenburgtunnels. Eberls Ankündigung hat keinen militärischen Hintergrund, sondern ist den sprachlichen Unterschieden zur Alpenrepublik geschuldet. Es geht ums Sprengen. Auf drei Warntöne aus einem Signalhorn folgt ein dunkles Grummeln aus dem Berg unter dem Kernerviertel. Als das Geräusch, das die Wände der Baucontainer vor dem Tunnelausgang vibrieren lässt, verklungen ist, ist die Röhre, in der einmal Züge aus dem Neckartal in Richtung des neuen Hauptbahnhofs fahren sollen, 1,30 Meter länger als zuvor.

 

So lang ist der sogenannte Abschlag an diesem Morgen, den die Mannschaft um Stefan Eberl geschafft hat. Sie hat den Auftrag, den Tunnel nach Ober- und Untertürkheim zu bauen. Als sich die Sprenggase verzogen haben, bittet Eberl zu einem kurzen Besuch in der Unterwelt. Ortsbrust nennen die Mineure die Stelle, an der der Tunnel am weitesten in den Berg hineingetrieben ist. Dort haben kurz zuvor rund 80 Kilo Sprengstoff aus festem Fels Geröll unterschiedlichster Korngröße gemacht. Die 80 Kubikmeter bringen gut 200 Tonnen auf die Waage. Dieses Stück Stuttgarter Untergrund wollen wir auf seinem Weg aus der Landeshauptstadt hinaus begleiten.

Michaela Klapka kann das Tun der Tunnelbauer verfolgen – meist mehr, als ihr lieb ist. Sie wohnt im Kernerviertel über der Röhre, in der gearbeitet wird. Ein paar Meter können viel ausmachen: „Manchmal hört man im Erdgeschoss nichts, dafür ist es eine Etage höher schon sehr laut.“ Dabei sind es nicht Bagger und andere Maschinen, die für die Geräuschkulisse sorgen. „Die Lüfter aus der Baustelle sind irre laut“, sagt Klapka. Mit den großen Ventilatoren wird Frischluft in die Röhren gepresst. Derzeit sind zwei davon im Einsatz, zur Hochzeit des Bauens werden es einmal vier sein.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Im Tunnel werden unterdessen die Besucher wieder zum Ausgang gebeten, denn unter Tage ist Platz ein rares Gut. Den brauchen aber die wuchtigen Radlader, um das Gestein ans Tageslicht zu befördern. Schuttern nennen die Tunnelbauer diesen Arbeitsschritt, und es scheint angeraten, dabei nicht im Wege zu stehen. Der Abraum hat seine ersten Meter geschafft und muss gleich wieder umsteigen. Unter einiger Staub- und Lärmentwicklung poltern die grau-braunen Steine aus der Schaufel des Radladers in eine Metallwanne, die am Rand der überdachten Baustelle steht.

Was nicht passt, wird passend gemacht: Das Förderband, das den Aushub vom Tunnelmund in den Mittleren Schlossgarten bringen soll, würde sich an Brocken, die größer als 30 Zentimeter sind, verschlucken. Ein Brecher bringt die zu großen Brocken auf Transportgröße, wie Benjamin Denk von der DB-Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm unter ohrenbetäubendem Lärm der lastwagengroßen Anlage erklärt. Einmal zurechtgestutzt, treten die Brocken ihre Fahrt an, die nach gut 320 Metern auf einer Fläche in Sichtweite des Biergartens endet. Das Förderband, im Juli 2014 aufgestellt, ist Ende März 2016 endgültig in Betrieb genommen worden. 25 bis 35 tägliche Lkw-Fahrten soll es vermeiden, so das Kalkül der S-21-Logistiker.

Auf der nächsten Etappe kommt aber doch der Laster zum Einsatz. Der trägt einen gelben, nach oben offenen Container huckepack. Den belädt ein Bagger mit 200 Tonnen Aushub. Die Fahrt geht über ein separates Netz von Logistikstraßen an den Nordbahnhof. Dort ist das Reich von Wolf-Dieter Tigges. Er herrscht über die Zentrale Baulogistik, die sich auf dem ehemaligen Güterbahnhof breit gemacht hat. Die acht Millionen Tonnen Erde und Gestein, die aus den S-21-Baustellen im Innenstadtbereich geholt werden, gehen über die Fläche am Nordbahnhof. Das entspricht dem Gewicht von 2600 Stuttgarter Fernsehtürmen. Das Material wird am Nordbahnhof auf Eisenbahnwaggons gewuchtet – allerdings nicht so schnell, wie von der Bahn geplant. Ursprünglich hätten bis zum Jahresende 2015 3,6 Millionen Tonnen abgefahren worden sein sollen – tatsächlich waren es nur 1,9 Millionen Tonnen. Weil die Genehmigungen für den Tunnelbau nicht, wie bei der Planung vorausgesetzt, erteilt worden seien, gehe es langsamer voran, sagt ein Projektsprecher. Für Tigges’ Team bleibt aber auch so noch genug zu tun. Mehr als 2000 Züge, beladen mit Gestein und Erde, haben mittlerweile den Umschlagplatz am Nordbahnhof verlassen.

Ein Geschäft, das nicht unbemerkt über die Bühne gehen kann. Beschwerden von Anwohnern sind nicht ausgeblieben. Zumindest gegen die Staubwolken, die beim Zwischenlagern des Aushubs aufgestiegen sind, unternimmt die Bahn etwas. Derzeit rieseln jeden Tag vier Kubikmeter Wasser auf die Haufen aus Erde und Gestein. Die zwischen dem Nordbahnhof und den verschiedenen Baustellen pendelnden Lastwagen erhalten in sieben Reifenwaschanlagen ein Fußbad. Eine Kehrmaschine kreiselt über die große Fläche am Nordbahnhof. Irgendetwas zwischen 200 und 300 Millionen Euro wird die Entsorgung des Stuttgart-21-Aushubs einmal gekostet haben. 2018 soll Schluss sein. Dann räumt Tigges’ Mannschaft – 19 Bahnmitarbeiter, 30 Angestellte von Fremdfirmen und noch mal so viele von Sicherheitsunternehmen – den Nordbahnhof und macht Platz für die Gleisbauer des neuen Stuttgarter Bahnknotens. Abnehmer des Aushubs finden sich vor allem in Ostdeutschland, wo große Tagebaulöcher verfüllt werden müssen. Aber auch nach Lahr hat man schon Erde geliefert – dort diente der Stuttgarter Untergrund zur Modellierung der Landesgartenschaulandschaften.

Freie Fahrt für vierzig Container

Mittlerweile ist es Mittwochmorgen geworden. Die Sprengung unter dem Kernerviertel liegt noch keine 24 Stunden zurück, als Andreas Hundt einen kleinen Hebel nach vorne schiebt und damit fast 1700 Tonnen in Bewegung setzt. Hundt ist Lokomotivführer und bringt an diesem frühen Mittwochmorgen den Aushubzug langsam auf Touren. Mit im Führerstand steht Pierre Hufschmidt von der DB Tochter Fahrwegdienste, die sich den Transportauftrag gesichert hat. Der Fahrplan liegt nicht an seinem ausgeprägten Hang zum Frühaufstehen. „Wir müssen uns die Lücken suchen, die der Personenverkehr lässt“, erklärt Hufschmidt. Auf den Gleisen gibt es eine klare Hackordnung. Erst kommt der Fern-, dann der Regionalverkehr und am Ende sind die Güterzüge dran, wie eben jenen, den Hundt nun von einem Gleis am Nordbahnhof in Richtung Pragtunnel bugsiert. Dass dabei die von der S-Bahn genutzten Gleise gequert werden müssen, schränkt die Entsorger zusätzlich ein. Während der Hauptverkehrszeiten, wenn die S-Bahnen im dichten Takt vorbeirauschen, kann kein Abraumzug die Fläche am Nordbahnhof verlassen.

Dieses Problem gibt es um kurz vor vier nicht. Es geht durch Feuerbach, Zuffenhausen, Kornwestheim und Ludwigsburg. Die Anzeigen auf den Bahnsteigen kündigen zwar schon die ersten S-Bahnen an, von Pendlern ist aber noch nichts zu sehen. Freie Fahrt also für die 20 Waggons, auf denen insgesamt 40 Container durch die Nacht rauschen. 11 000 PS entwickelt die Siemens-Lok an der Spitze des 300 Meter langen Zuges, der mittlerweile durch das nächtliche Murrtal in Richtung Nordosten Baden-Württembergs rollt. Überraschend leise geht das vonstatten – zumindest wenn man im Führerstand der Lok mitfährt.

Ziel ist Michelbach an der Bilz, eine 3500-Einwohner-Gemeinde vor den Toren Schwäbisch Halls. Eine Bahnhofstraße gibt es noch, aber Personenzüge halten dort schon lange nicht mehr. Stattdessen rangiert Andreas Hundt die schwere Last nun rückwärts in ein Gleis neben der Schienenstrecke. Es ist kurz vor fünf Uhr, draußen ist es immer noch finster. „So schnell sind wir noch nie durchgekommen“, sagt Hundt. Gut 80 Kilometer hat die Fuhre seit der Abfahrt in Stuttgart-Nord zurückgelegt.

Die letzte Lagerstätte

Auf uns gewartet hat schon Andreas Zorn. Der Polier in Diensten der Firma Leonhard Weiss sitzt in einer Baubaracke neben den Gleisen und hat die lange Schlange von gelben Containern im Blick. Abgeladen werden darf noch nicht. Jenseits der Gleise sind die ersten Häuser von Michelbach zu sehen, in denen jetzt noch nächtliche Ruhe herrscht. Die darf von den Arbeiten nicht gestört werden. Drei Lastwagen stehen bereit, die Stuttgarter Erde wenige hundert Meter weit zu fahren. Dort klafft ein Riesenloch: Der Steinbruch Wilhelmsglück wird letzte Lagerstätte der Erde aus der Landeshauptstadt.

Richtig begeistert waren sie in Michelbach von dem Gedanken nicht. Die Gemeinde hat versucht, die Anlieferung des Stuttgart-21-Gesteins juristisch zu bekämpfen – letztlich vergeblich. Bürgermeister Werner Dörr stellt klar: „Wir wollten nichts verhindern.“ Ziel des Vorstoßes sei vielmehr gewesen, die Entwicklung der Gemeinde nicht einzuschränken. Denn im Flächennutzungsplan ist ein Neubaugebiet entlang der Gleise vorgesehen. Wenn die Umladearbeiten zu laut gewesen wären, hätten die Häuslebauer das Nachsehen gehabt. „Aber das Regierungspräsidium hat uns eindeutig zu verstehen gegeben, dass die Grenzwerte eingehalten werden“, nennt Dörr den Grund, den Rechtsweg nicht weiter zu beschreiten. Der Rathaus-Chef stellt aber auch fest: „Wir haben nichts von der Entsorgung der Erde bei uns. Wir verdienen daran kein Geld.“ Der Profit bleibe beim Betreiber des Steinbruchs hängen.

Was den Michelbachern bleibt, sind zuweilen verschmutzte Fahrbahnen. „Aber das Unternehmen ist da hinterher und putzt auch regelmäßig.“ Zuweilen laufen im Rathaus noch Beschwerden ein, dass die morgendlichen Rangierfahrten zu laut seien. Mehr Aufruhr ist aber nicht.

Zwei Züge kommen derzeit täglich aus Stuttgart an und bringen neues Futter für den weitaufgerissenen Schlund im Kochertal. Riesige Greifer, sogenannte Reach-Stacker, wuchten die Container auf bereitstehende Lastwagen. Keine fünf Minuten dauert die Fahrt in den Steinbruch. Die Ladung, die bei der Abfahrt in Stuttgart noch nach einer großen Menge Erdreich aussah, wirkt nun, einmal abgekippt in der Sohle des Steinbruchs, als ob ein Kind beim Sandeln seinen Eimer umgestoßen hätte. Ein Raupenfahrzeug zieht den Boden eben. Was vor gut 24 Stunden noch den Untergrund im Kernerviertel gebildet hat, ist nun Teil der Hohenloher Erde.