Er holt Marina Sauter ins Internat nach Furtwangen, hier kann sie gleichzeitig intensiv trainieren und das Wirtschaftsgymnasium besuchen, das nur wenige Hundert Meter entfernt liegt – ein Riesenplus, wenn man in der Woche zwölf Stunden Training, 32 Stunden Unterricht und jede Menge Hausaufgaben unter einen Hut bekommen soll. „Da musst du ganz schön reinhauen“, sagt sie.

 

„Marina!“, schreit der Trainer Roman Böttcher. Sie liegt auf der roten Schussmatte. Im Sekundentakt fallen die leeren Patronenhülsen. Alle Scheiben klappen auf Weiß, jeder Schuss ein Treffer. Dabei ist das Ziel kaum größer als ein Zwei-Euro-Stück.

Es schneit inzwischen so heftig, dass die Schussmatte neben ihr mit einem weißen Teppich überzogen ist. Sie schließt den Verschluss zum Korntunnel und schnallt sich die Waffe auf den Rücken. „Marina, heute läufst du eine Stunde 30! Lauftechnik, immer wieder Lauftechnik!“ Er imitiert die Armbewegung mit Skistöcken. „Ganz bewusst reinschieben.“ Marina Sauter nickt. „Alles klar, Abflug!“ Roman Böttcher grinst. Auch die anderen neun Nachwuchs-Biathleten schickt er auf ihre Runden.

Böttcher kennt seine Talente genau

„Schießen kann sie“, sagt er. „Da macht sie sich keine Gedanken. Sie drückt einfach ab.“ Beim Laufen traue sie sich hingegen noch zu wenig zu. „Sie glaubt, sie würde einbrechen, deswegen geht das Rennen deshalb zu langsam an. Dabei würde sie das gar nicht. .“

Böttcher kennt seine Talente genau. Marina könne „voll die Zicke sein“, ein ganzes Training sprengen. Passt ihr etwas nicht, zieht sie ein Gesicht. „Aber du kannst gut mit ihr arbeiten, auch mal ‚nen Scheiß machen“, sagt Böttcher.

Für Marina Sauter wäre der Traum fast schon im 2. Juli 2014 geplatzt. An das Datum erinnert sie sich genau. Dabei würde sie den Tag am liebsten verdrängen und vergessen. Ihr linker Fuß schmerzt noch heute manchmal unter starker Belastung. Dann denkt sie an damals, an diesen verfluchten Mittwoch, als sie im Kraftraum umknickte. Sofort kam der Schmerz. Da ahnte sie noch nicht, dass ihr am Mittelfuß ein Stück Knochen herausgebrochen war. Sie trainierte noch tagelang weiter.

Immer geht sie über ihre Schmerzgrenze. Darin ist Marina Sauter spitze. Ihre Trainer beschreiben sie als ehrgeizig und als besonders hart im Nehmen. „Extrem willensstark“ sei sie, lobt ein Mitschüler die zierliche, nur 1,60 Meter große Frau mit den langen Haaren, den rosa Wangen und Lachfältchen um die Augen. Eine Kämpferin, zumindest auf den zweiten Blick.

Die Zeit der Krücken

Ihre Mutter bemerkte im Sommer 2014 beim gemeinsamen Einkaufen den seltsamen Gang ihrer Tochter. „Wie läufst denn du?“, fragte sie und brachte sie kurzerhand ins Krankenhaus. Dann war Marina Sauter sechs Monate raus. „Ein Totalausfall“, sagt sie. Wenn sie von ihrer Leidenszeit erzählt, schimmern ihre Augen wässrig. Vier Monate schleppte sie sich an Krücken rum, bis sie Blasen an den Händen hatte. Am Härtesten aber war es, die Fortschritte der Mitschüler zu sehen. Während die anderen Muskeln aufbauten, verlor sie ihre. Das linke Bein wurde immer dünner, als würde es sich langsam vor ihren Augen auflösen.

Im Februar 2014 war sie noch Vizemeisterin bei den Deutschen Jugend- und Juniorenmeisterschaften geworden. In Ruhpolding bei der Deutschen Meisterschaft startete sie in der baden-württembergischen Landesstaffel – ihr erster Auftritt bei den Aktiven, dem Traum zum Greifen nah. Plötzlich war das alles nicht mehr als eine schöne Erinnerung.

Einige Monate später machte sie auf dem Ergometer wieder ihre ersten Kilometer. Den Armkraftzug, mit dem sich der Stockschub simulieren lässt, bauten ihr die Trainer so um, dass sie mit einem Kissen unter den Knien trainieren konnte. Es waren die ersten Schritte zurück. „Während so einer Leidenszeit merkt man besonders, dass es noch etwas anderes neben dem Sport gibt“, sagt sie heute. In ihrem Zimmer hängt eine riesige Fotocollage. Lachende Gesichter auf glänzendem Papier. Ihr Körper hat sie im Stich gelassen, aber ihr Umfeld nicht. Alle waren für sie da: ihre Mitschüler, ihre Trainer, ihre Freunde zu Hause in Ulm und natürlich auch ihre Eltern. Auf den Bildern ist ihr Glück im Unglück eingefangen.

Schießen. Langlaugen. Das ist es.

Marina Sauter hat sich niemals hängen lassen, dafür liebt sie ihren Sport zu sehr, und zwar seit sie Biathlon zum ersten Mal im Fernsehen gesehen hat. In Bächingen an der Benz, 40 Fahrminuten von Ulm entfernt, saß sie einst mit ihren Eltern auf dem Sofa und fieberte beim Weltcup in Ruhpolding mit. „Das will ich auch machen“, sagte sie. Schießen. Langlaufen. Das ist es!

Kurz darauf las ihre Mutter in der Zeitung von einem Schnuppertraining beim DAV Ulm. Sie fuhren hin. Marina war damals neun Jahre alt. Kaum waren sie aus dem Auto gestiegen, schnappte sich die Kleine die Ski. „Halt, die ist doch noch nie auf Skiern gestanden“, rief ihre Mutter. „Ach, lass sie einfach laufen“, antwortete ein Trainer. Mit elf lief sie ihren ersten Wettkampf beim Schüler-Cup. Zwei Kilometer Langlaufen, zwei Mal liegend mit dem Luftgewehr aus zehn Metern schießen. So fing es an.

Mit 15 steigt sie auf das dreieinhalb Kilo schwere Sportgerät um, ein Kleinkaliber 5,6. Alles wird jetzt intensiver. Ihre Eltern müssen sie vier bis fünf Mal die Woche zum Training nach Ulm fahren. Leistungssport heißt Verzicht, auch für das Umfeld. „Meine Eltern mussten wegen mir oft kürzertreten“, sagt Marina. Als sie die Realschule fertig hat, steht sie am Scheideweg: Sie will das Abitur machen, aber mit dem Gewehr am Anschlag.

Da kommt der Anruf. „Wir hätten dich gerne hier“, heißt es. Der Furtwanger Internatsleiter Niclas Kullmann ist am Telefon. Man kennt sich seit den Schüler-Cups, die Talente werden seit Jahren beobachtet. „Du kriegst schon mit, wer sich gut macht“, sagt der hünenhafte 41-Jährige mit den raspelkurzen Haaren und dem Sonnyboy-Lächeln, den alle nur Nic nennen.

Jeder Schuss ein Treffer

Er holt Marina Sauter ins Internat nach Furtwangen, hier kann sie gleichzeitig intensiv trainieren und das Wirtschaftsgymnasium besuchen, das nur wenige Hundert Meter entfernt liegt – ein Riesenplus, wenn man in der Woche zwölf Stunden Training, 32 Stunden Unterricht und jede Menge Hausaufgaben unter einen Hut bekommen soll. „Da musst du ganz schön reinhauen“, sagt sie.

„Marina!“, schreit der Trainer Roman Böttcher. Sie liegt auf der roten Schussmatte. Im Sekundentakt fallen die leeren Patronenhülsen. Alle Scheiben klappen auf Weiß, jeder Schuss ein Treffer. Dabei ist das Ziel kaum größer als ein Zwei-Euro-Stück.

Es schneit inzwischen so heftig, dass die Schussmatte neben ihr mit einem weißen Teppich überzogen ist. Sie schließt den Verschluss zum Korntunnel und schnallt sich die Waffe auf den Rücken. „Marina, heute läufst du eine Stunde 30! Lauftechnik, immer wieder Lauftechnik!“ Er imitiert die Armbewegung mit Skistöcken. „Ganz bewusst reinschieben.“ Marina Sauter nickt. „Alles klar, Abflug!“ Roman Böttcher grinst. Auch die anderen neun Nachwuchs-Biathleten schickt er auf ihre Runden.

Böttcher kennt seine Talente genau

„Schießen kann sie“, sagt er. „Da macht sie sich keine Gedanken. Sie drückt einfach ab.“ Beim Laufen traue sie sich hingegen noch zu wenig zu. „Sie glaubt, sie würde einbrechen, deswegen geht das Rennen deshalb zu langsam an. Dabei würde sie das gar nicht. .“

Böttcher kennt seine Talente genau. Marina könne „voll die Zicke sein“, ein ganzes Training sprengen. Passt ihr etwas nicht, zieht sie ein Gesicht. „Aber du kannst gut mit ihr arbeiten, auch mal ‚nen Scheiß machen“, sagt Böttcher.

Mit seinem blonden Strubbelhaar und dem frechen Grinsen wirkt er manchmal selbst wie ein Schüler. Das Verhältnis zwischen ihm und den Schützlingen ist ohnehin kumpelhaft. Einmal gab es eine Umfrage unter den Schülern, wer denn ihre Vertrauenspersonen seien: Die Trainer landeten noch vor den Freunden und der Familie auf Platz eins. „Sie kommen auch mit Liebeskummer zu uns.“ Manchmal knallt es auch. „Klar nennt man mich auch mal ein Arschloch.“ Unter vier Augen sei das okay.

Viel Ärger haben sie mit ihren Schülern nicht. Keinen müsse man gängeln. Junge Leistungssportler seien fokussierter als Normalos. „Nicht besser, aber anders“, sagt Ina Metzner, eine von zwei weiteren Biathlon-Trainern. Einmal sei einer der Väter zu ihr gekommen, ein Fahrschullehrer. Er meinte, er erkenne unter seinen Fahrschülern einen Leistungssportler sofort, die seien selbstständiger, organisierter. Da sage keiner so schnell einen Termin ab. Die zögen ihre Sache durch.

Am Ende der Schule gehen die Wege auseinander. Die wenigstens, die das Internat in Furtwangen verlassen, könnten anschließend komplett vom Sport leben, sagt Ina Metzner. „Man quält sich das ganze Jahr“, sagt Marina Sauter. Auch wenn sie nach Hause fährt, kann sie nicht abhängen, nicht einmal von Mitte März bis Ende April, wenn Trainingspause ist. Sie geht dann joggen, ihre Mutter fährt mit dem Fahrrad nebenher. „Sonst kommt sie nicht mit.“

Die Krönung ihrer letzten Jahres auf dem Internat

Inzwischen hat sie wieder ein Jahr trainiert. Natürlich gab es kleine Rückschläge, aber ihr linkes Bein hat gehalten. Nur eine kleine, längliche Narbe auf ihrem linken Knöchel ist geblieben – ein roter Strich, wie ein Vermerk im Kalender. Die Wunde verheilt, aber das Datum hat sich ins Gewebe festgebrannt.

Vielleicht hat sie die Verletzung sogar stärker gemacht. Die erste Belohnung für ihren Willen hat sie bereits geerntet: Anfang Januar qualifizierte sie sich in Südtirol für die Junioren-Weltmeisterschaft in Rumänien. Für sie der größte Wettkampf ihrer Laufbahn, die Krönung ihres letzten Jahres auf dem Skiinternat.

Wenn Marina Sauter im Sommer ihr Abitur gemacht hat, dann muss sie das Internat verlassen. Bis dahin will sie es in den C-Kader des Deutschen Skiverbandes geschafft haben. „Das ist quasi die Jugendnationalmannschaft“, erklärt sie. Mit dem Status könnte sie weiter in Furtwangen unter Profibedingungen trainieren. Klappt es nicht, will sie ein Übergangsjahr dranhängen. Sich eine Wohnung in Furtwangen suchen und mit den Internatsathleten weitertrainieren. Ganz ohne Schulstress, um dann hoffentlich ein Jahr später den Sprung zu den Profis zu schaffen.

Prognosen, wo es für sie hingehen könnte, will sie nicht stellen. Erst mal gesund bleiben, hart arbeiten. „Man darf sich nicht ständig so brutal unter Druck setzen.“ Auch das habe sie während ihrer Verletzungszeit gelernt. Immer Schritt für Schritt, nicht viel nachdenken wie beim Schießen, konzentriert sein und dann einfach abdrücken: dann ist sie am besten.