Ständig und überall sollen wir uns mit anderen Menschen austauschen. Das ist nicht immer produktiv, findet StZ-Autor Markus Reiter.

Stuttgart - Im Jahre 250, während der Verfolgung der Christen durch den römischen Kaiser Decius, zog sich der Legende nach der 22-jährige Waise Paulus von Theben, ein koptischer Christ, von Erbstreitigkeiten mit seinem Bruder und den Anfeindungen seines Glaubens zermürbt, in die ägyptische Wüste zurück. Er schlief fortan unter einer Palme, trank Wasser aus einer nahen Quelle und aß das Stückchen Brot, das ihm ein Rabe täglich brachte. Nur einmal noch traf er in den angeblich rund neunzig Jahren seines Einsiedlerlebens auf eine andere menschliche Seele: auf Antonius den Großen, der selbst ein berühmter Eremit war. Die Begegnung der beiden Männer gehört zu den beliebten Motiven der abendländischen Malerei. Anachoretische Persönlichkeiten wie Paulus von Theben und der heilige Antonius tauchen in fast allen Religionen auf. Manche ziehen sich nur für eine gewisse Zeit zurück, wie Jesus in der Wüste, manche machen die Einsamkeit zu ihrem Lebensentwurf.

 

Eine solche Idee muss in einer Gesellschaft befremden, die immer mehr und immer drängender den digitalen sozialen Austausch zum Maßstab erklärt. Wer sich nicht über Facebook, Twitter, Tumblr und all die anderen Netzwerke mit Freunden und Fremden verbindet, gerät fast schon in den Verdacht, ein Sozialphobiker zu sein. Einige Meldungen der letzten Wochen unterstreichen den Siegeszug der sozialen Netzwerke. Ende Juni gab Twitter neue Rekordmitgliederzahl von 4,4 Millionen Nutzern in Deutschland bekannt. Facebook meldet hierzulande fast 24 Millionen Mitglieder. Die Zahl der Internetverweigerer bei den unter 30-jährigen liegt bei gerade einmal drei Prozent. Die Online-Pinnwand Pinterest verzeichnet innerhalb eines Jahres ein Wachstum von rund dreitausend Prozent. Die Blogger und Internetunternehmer Sascha Lobo und Christoph Kappes verkündeten jüngst, dass sie einen neuen Verlag gründen  wollen. Er soll elektronische Bücher herausgeben, über welche die Leser in einer digitalen Gemeinschaft ständig und unablässig mit anderen über ihre Lektüre kommunizieren.

Die Internet-Apologeten argumentieren gerne biologistisch. Der Mensch sei, anders als Wölfe und Orang-Utans, ein soziales Wesen. Der permanente Austausch mit anderen gehöre zu seiner Grundveranlagung. Die technischen Möglichkeiten der sozialen Netzwerke im Internet erlaubten ihm, dieser Veranlagung noch besser zu entsprechen. Doch unsere Steinzeitvorfahren lernten in ihren ganzen Leben weniger Menschen kennen, als wir heute an einem einzigen Nachmittag mittels Facebook und Twitter Bekanntschaften schließen können. Und alle diese Bekanntschaften, unsere Freunde und Follower, teilen uns ihre Befindlichkeiten und ihre Gedanken zu Gott und der Welt im Dauerbeschuss mit. Wir lesen gerade ein Buch? Dann mögen wir bitte schön sogleich verkünden, was davon zu halten ist. Wir hören gerade Musik? Dann ist es doch nur recht und billig, wenn unsere Facebook-Freunde davon erfahren und sich in jeden einzelnen Song einklinken können. Wir sehen fern? Dann sollten auf jeden Fall alle mitbekommen, was uns gerade bei dieser Serie oder jener Dokumentation durch den Kopf geht.

„Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Diesen viel zitierten Satz hat einst der Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick geschrieben. Die Protagonisten der sozialen Netzwerk-Euphorie gehen einen Schritt weiter. Sie setzen voraus, dass der Mensch ständig mit anderen Menschen kommunizieren und sie über seine Meinungen und Befindlichkeiten auf dem Laufenden halten will. Psychologen und Neurowissenschaftler wissen, dass es beim „sozialen Austausch“ nicht darum geht, eine Sache inhaltlich tiefer zu durchdringen. Im Gegenteil: die Inhalte sind zweitrangig. Es handelt sich vielmehr um ein Signal an die anderen Mitglieder der Gemeinschaft: „Ich bin da! Nimm mich wahr!“ Dem entspricht die Erfahrung, dass die banalsten Mitteilungen bei Facebook die meisten Reaktionen auslösen.

Auf Treffen der Internetboheme wie dem Kongress „Social Mania“, der vor einigen Tagen an der Hochschule der Medien in Stuttgart stattfand, beschäftigten sich die hyperaktiven Blogger unter den Podiumsgästen lieber auf ihren iPhone mit ihren sozialen Netzwerken, als sich den anwesenden Zuhörern zuzuwenden. Ihre Debattenbeiträge werden bei solcher Ablenkung nicht unbedingt gedankenreicher. Zugleich machen solche Kongresse deutlich, dass für ein breites Publikum das Bedürfnis nach Austausch über die sozialen Netzwerke geringer ist, als die Propheten des Web 3.0 meinen. Die Fragen und Kommentare via Twitter jedenfalls tropfen trotz vielfacher Aufforderung nur vereinzelt ein.

Auch andere Zahlen belegen, dass allzu viel sozialer Austausch Menschen überfordert. Der Großteil jener 4,4 Millionen Twitter-Nutzer schreibt so gut wie nie eine Kurzbotschaft. Millionen von Facebook-Konten liegen brach oder werden nur alle paar Tage aufgesucht. Das größte deutsche seriöse Nachrichtenportal, „Spiegel-Online“, hat nach eigenen Angaben etwa 4,5 Millionen Leser. Aber selbst kontroverse Themen bringen es auf kaum mehr als einige Hundert Kommentare in den Leserspalten, oft von den immergleichen Personen. Der Erkenntniswert dieser Kommentare hält sich in der Regel in Grenzen.

Das ist alles keine Katastrophe. Ein bisschen Ernüchterung tut der heiß gelaufenen Social-Media-Manie sogar gut. Man darf sich nämlich fragen, ob die Lektüre eines Romans intensiver, eine Fernsehsendung spannender, eine Diskussion erhellender wird, wenn man dabei ständig auf Sendemodus geschaltet ist, weil man sich verpflichtet sieht, anderen Menschen Mitteilung über seinen aktuellen Seelenzustand zu machen. Eine digitale Einsiedelei ist von Zeit zu Zeit intensiver als jeder soziale Austausch. Sie erst schafft Raum für das Nachsinnen und Durchdringen.

Eremitische Momente sind dabei selbst inmitten einer Gemeinschaft möglich. Dies lehren uns die katholischen Kartäusermönche. Sie leben miteinander in klösterlicher Gemeinschaft, wechseln aber kaum ein Wort miteinander. Besuch dürfen sie nur einmal im Jahr für zwei Tage in ihrer Kartause empfangen. Ihre Tage sind gefüllt mit Gebet und Kontemplation. Der Rest ist Schweigen.