Ein christlicher Verein für Menschen in Not fordert Geld vom Staat – nicht für sich, für Lehrlinge. Deshalb hat der Hilfsverein zu seinem 150-jährigen Bestehen keine Festschrift herausgebracht hat, sondern eine Art Hilferuf – nicht in seinem Sinne, für seine Klientel.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

S-Mitte - Der Verein ist der christlichen Nächstenliebe verpflichtet. Er hilft Menschen in nahezu gleich welcher Not. Vor allem hilft er bei Wohnungsnot, sei es tatsächlich Obdachlosen oder Frauen, Männern, Paaren, die schlicht zu arm sind, um die in Stuttgart üblichen Mieten bezahlen zu können.

 

Statt Festschrift zum Geburtstag gibt es einen Hilferuf

Der Verein ist Teil der Diakonie und heißt seiner Bestimmung gemäß Evangelische Wohnheime Stuttgart. Er hat seinen Sitz im Hospitalviertel, nicht zufällig an der gleichen Adresse wie das christliche Hotel Wartburg. Dessen 98 Betten für Reisende gehören genauso zum Verein wie die 420 Wohnplätze in acht Häusern der Innenstadt. Seine Vorläufer mitgerechnet, müht der Verein sich seit 150 Jahren, Notleidenden Obdach zu bieten. Drei Jahre nach der Gründung eröffnete er sein erstes Gästehaus, schon damals mit 58 Betten für Lehrlinge. Schließlich leidet die Jugend in Ausbildung grundsätzlich unter Geldnot. So ist es selbstredend geblieben, mit tarifvertraglich festgeschriebener Gewissheit.

Eben deshalb hat der Hilfsverein zu seinem 150-jährigen Bestehen keine Festschrift herausgebracht hat, sondern eine Art Hilferuf – nicht in seinem Sinne, für seine Klientel. In drei seiner Häuser können sich junge Frauen und Männer während ihrer Ausbildungszeit einmieten. Die Preise sind moderat: Um die 200 Euro fürs Zimmer pro Monat oder, bei kürzerem Aufenthalt, 40 Euro pro Nacht samt Vollpension und pädagogischer Betreuung. Das Angebot ist beliebt. „Die Zimmer sind immer belegt“, sagt Werner Schäfer, der Geschäftsführer des Vereins, „weil die Jugendlichen keine Alternative haben, als sich mit der Ungerechtigkeit abzufinden“.

Die Ungerechtigkeit ist sogar bei Gericht aktenkundig. Ein Schüler, der eines jener Zimmer bewohnt, hat einen Gegner verklagt, mit dem andere juristische Auseinandersetzungen eher scheuen: das Land Baden-Württemberg. Die Regierung hat Zuschüsse für Lehrlinge in der Fremde „vollständig gestrichen“, sagt Schäfer. Bis zu 6000 Euro, hat er errechnet, müssen die Auszubildenden seitdem aufbringen, um am Unterricht ihrer Berufsschulen teilzunehmen. Etwa jeder vierte Betroffene müsse mangels elterlicher Hilfe das Geld selbst zusammenkratzen. Bei manchem „geht das gesamte Ausbildungsgehalt drauf“, sagt Schäfer und vergleicht den Sparbeschluss gegen die Lehrlinge mit einer Großzügigkeit gegenüber Studenten: „Denen hat man die Studiengebühren erlassen.“

Die Alternative zur Zweitmiete ist die Lehre hinzuwerfen

Zu der Ausgabe für Unterkunft und Verpflegung sind die Lehrlinge gezwungen. Sie dürfen ihren Schulort nicht frei wählen, sondern werden zugeteilt. Vor allem, wer auf dem Land lernt, lebt regelmäßig nicht dort, wo er die Berufsschule besucht. Das Problem wird auch an staatlicher Stelle keineswegs geleugnet: Insbesondere in weniger beliebten Berufen „ist das Einzugsgebiet der Berufsschule meist sehr groß, sodass vielen Schülern eine tägliche Rückkehr zum Wohn- oder Ausbildungsort nicht möglich ist“. Der Satz stammt aus einer Informationsschrift des Kultusministeriums Baden-Württemberg. Die Alternative zur Zweitmiete ist, „die Lehre zu schmeißen“, sagt Schäfer. Das tun, je nach Berufszweig, bis zu 80 Prozent der Jugendlichen. Bundesweit beendet jeder Vierte seine Ausbildung ohne Abschluss.

Die Diakonie hat vorgeschlagen, die Kosten zu je einem Drittel auf die Lehrlinge, deren Arbeitgeber und den Staat zu verteilen, aber dafür, sagt Schäfer, „ist schlichtweg kein politischer Wille da“. Die Aussicht jenes klagenden Schülers auf Erfolg vor Gericht scheint ebenfalls gering. Zwar steht das Urteil noch aus, aber ein Berufsschüler, der bei Reutlingen lebt und nach Göppingen pendeln musste, hatte vor zwei Jahren auf Erstattung seiner Übernachtungskosten geklagt. In ersten Instanz urteilte das Verwaltungsgericht Sigmaringen, in zweiter der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg: abgelehnt.