Intellektuelle plädieren für ein straffes Grenzregime und nähren Fantasien vom staatlichen Kollaps.

Stuttgart - Manch prominenter Denker erweckt derzeit den Eindruck, als strebe er nach einem Beraterposten bei der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex. So hob der in Karlsruhe lehrende Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich zu einem „Lob der Grenze“ an, sinnierte dann mit einer verunglückten Wortschöpfung über den „Lügenäther“ in den deutschen Medien, um schließlich zu konstatieren: „Es gibt keine moralische Pflicht zu Selbstzerstörung.“ Einen solchen selbstzerstörerischen Moralismus meint Sloterdijk aber offenkundig in der Flüchtlingspolitik Angela Merkels ausmachen zu müssen.

 

Zuvor schon – obgleich nicht ganz so schrill – hatte sich Rüdiger Safranski, Sloterdijks alter Sidekick aus der ZDF-Sendung „Das philosophische Quartett“, in die Debatte geworfen. Dieser nämlich hatte festgestellt: „Zu einem souveränen Staat gehört, dass er seine Grenzen kontrolliert.“ Die beiden Philosophen formulierten damit in etwa dasselbe, was führende AfD-Politiker meinen, wenn sie in brachialer Rhetorik fordern, im Zweifelsfall müsse der Staat sich mit Waffengewalt der Flüchtlinge erwehren. Die hohe Zahl an Schutz suchenden Menschen, die seit einigen Monaten ins Land gelangt, bedrohe demnach das Gemeinwesen in seiner Existenz.

Verzerrte Wahrnehmungen

Derartige Auslassungen zeugen zunächst vor allem von einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit, schließlich ist Deutschland weit davon entfernt, in absehbarer Zeit als „failed state“ dazustehen. Bemerkenswert ist die diskursive Offensive einiger der hiesigen Kopfarbeiter dennoch, da sich beobachten lässt, wie rechtskonservative und nationalistische Narrative, die man bislang eher aus randständigen Zirkeln kannte, nun unverdrossen von Personen aufgegriffen werden, die auch gern gesehene Gäste in Fernsehtalkshows sind. Sloterdijks ebenfalls vor einigen Tagen erfolgte Distanzierung vom „AfD-Ideen-Müll“ – so seine Formulierung – offenbart angesichts seines vorangegangenen Einstimmens in das Gerede von der „Lügenpresse“ erstaunliche Schwierigkeiten, die eigenen Verlautbarungen selbst noch zur Kenntnis zu nehmen.

Die derart forcierte Hysterisierung der öffentlichen Debatte, die Fantasien vom bevorstehenden staatlichen Kollaps nährt, verschafft rassistischen Gewalttätern faktisch eine Rechtfertigung, können diese sich doch in die Rolle von Widerstandskämpfern halluzinieren. Zugleich wird auf diese Weise das Selbstverständnis moderner Gesellschaften untergraben. Als dieses in der frühen Neuzeit von den Denkern der Aufklärung ausformuliert wurde, setzte sich eine Vorstellung vom sozialen Zusammenleben durch, die dieses nicht länger auf Zwang und angeblich natürliche Hierarchien gründen wollte, sondern auf dem freien Willen autonomer und zur vernünftigen Reflexion fähiger Individuen. Dies kulminierte in dem Bild vom Sozialvertrag, der das einigende Band freiheitlich organisierter Gesellschaften darstellen sollte.

Offene Gesellschaft

Das selbstbestimmte Individuum war damit ins Zentrum des Nachdenkens über Gesellschaft, Staat und Politik gerückt. Mit diesem Erbe ist die Forderung nach sozialer Abschottung nicht zu vereinen. Wenn das soziale Zusammenleben in der Moderne gerade auf freier Zustimmung der Individuen basieren soll, was die oft beschworene offene Gesellschaft erst zu eben einer solchen macht, dann folgt daraus, dass Einwanderungswilligen zumindest die Möglichkeit einzuräumen ist, ihr Anliegen vorzutragen – und nicht, sie mit dem Gewehr zurück über die Grenze zu treiben.

Dies wird deutlich, wenn man sich den historischen Fall vergegenwärtigt, in dem versucht wurde, eine Gesellschaft hermetisch abzuriegeln. So ist es unmittelbar einsichtig, dass die Grenzpolitik der DDR, die ihren Bürgern die Auswanderung untersagte, nicht liberal-demokratischen Grundsätzen entspricht. Wenn aber ein prinzipielles Recht der Einzelnen auf Emigration als selbstverständlich gelten soll, so folgt im Umkehrschluss, dass es auch ein Recht auf Immigration geben muss – nämlich allein schon aus dem handfesten Grund, dass in einer vollständig in Nationalstaaten unterteilten Welt ein Grundrecht auf Auswanderung wertlos ist, wenn sich kein Staat findet, der Migranten aufnimmt, obwohl diese dessen rechtliche Ordnung akzeptieren.

Genau diese liberale Vorstellung von Gesellschaft versucht die Rechte zurückzudrängen, indem sie für eine Idee von Gemeinschaft wirbt, deren Substanz unverhandelbare Traditionen oder gar ethnische Kriterien darstellen sollen; der Einzelne spielt hierbei eine allenfalls untergeordnete Rolle. Die Frage, wer Teil dieser Gemeinschaft sein darf, wird an rein passiven Kriterien festgemacht: Entscheidend ist nicht, was einer tut und wie er denkt, sondern woher er stammt. Dies widerspricht jedem demokratischen Selbstverständnis, das diese Bezeichnung verdient.

Grad an Komplexität

Statt also auf die Bedeutung der kulturellen oder gar blutsmäßigen Herkunft des Menschen abzuheben, wäre ein genauerer Blick auf die konkrete Gegenwart angebracht. Die globalen Verhältnisse haben nämlich längst einen Grad an Komplexität erreicht, der ein Denken, das mit isoliert voneinander existierenden Gesellschaften rechnet, vollends zum Anachronismus macht. Ökonomische Prozesse veranschaulichen das gut: Wenn beispielsweise im globalen Wettbewerb europäische Produzenten dank Subventionen und Handelsabkommen afrikanische Landwirte vom Markt verdrängen, hat das fast zwangsläufig zur Folge, dass sich diejenigen, denen ihre Lebensgrundlage weggebrochen ist, früher oder später auf den Weg in Richtung Norden machen.

In diesem Kontext ist es irritierend, dass es zwar eine Selbstverständlichkeit ist, dass Waren und Kapital problemlos Grenzen passieren können, nicht aber Menschen. Dabei ist daran zu erinnern, dass gerade aus diesem Grund die Arbeitnehmer insbesondere hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten zur Lohnzurückhaltung gedrängt wurden, mit dem Hinweis darauf, dass andernfalls Unternehmen abwandern und sie ihre Arbeitsplätze verlieren könnten. Das Kräfteverhältnis von Arbeit und Kapital wurde so zunehmend asymmetrisch.

Recht auf Migration

Deswegen böte die aktuelle Diskussion Gewerkschaften und Flüchtlingsorganisationen die Chance, unter Verweis auf diese Asymmetrie gemeinsam für ein Recht auf Migration nicht allein aus humanitären, sondern aus dezidiert politischen Gründen zu streiten – und damit zugleich nach neuen Formen transnationaler Solidarität zu fragen. Solch ein Projekt, auch wenn es zweifellos langwierig wäre und zahllose Widersprüche aufwerfen würde, entspräche dem Geist der europäischen Idee, Grenzen zu überschreiten, anstatt neue Zäune zu errichten – und wäre allemal besser als ein Rückfall in den Chauvinismus.