Wie kann es sein, dass der Berliner Flughafen nicht rechtzeitig fertig wird und niemand will etwas gemerkt haben? Klaus Wowereit, oberster Verantwortlicher für das Projekt, behauptet: Es konnte keiner wissen.

Berlin - Von oben sieht alles ganz gut aus. Da liegt er, der neue Berliner Flughafen, eine flache silbergraue Kiste am Rand der großen Stadt. Von hier aus, 1000 Meter über der Erde, blitzen die Glasfronten in der Sonne, und ein paar Baufahrzeuge krabbeln ameisenhaft übers Gelände. Nichts deutet auf das Chaos hin, das in der Kiste herrscht. Check-in-Schalter, deren Computer ausfallen, elektronische Türen, die sich nicht öffnen, eine Brandschutzanlage, die nicht funktioniert.

 

Klaus Wowereit hat gerade abgehoben. Er sitzt in der First Class einer A380 und schaut nach unten. Er blickt nachdenklich, die Kameraauslöser um ihn herum klicken. Das mit dem ernsten Gesichtsausdruck war so nicht geplant. Dies hier sollte ein reiner Lächeltermin werden – der Auftakt für die Triumphwochen des Klaus Wowereit: Start der Dramaturgie mit der feierlichen Taufe des Lufthansa-Airbus auf den Namen „Berlin“ und Rundflug. Zwei Tage später die gigantische Eröffnungsparty des Großflughafens „Willy Brandt“ mit Tausenden Gästen – alles da vom Polier bis zur Bundeskanzlerin. Dann der Umzug in der Nacht zum 3. Juni. Und dann um 5.30 Uhr der Start der ersten Maschine, an Bord die Prominenz. Bilder von Willy Brandt überall in der Stadt. Und natürlich Bilder von Klaus Wowereit. Ein Meilenstein in der Geschichte der wiedervereinigten Stadt, die zusammenwächst. Etwas, das bleiben wird. Das wichtigste Projekt seiner Amtszeit: checked. Schlagzeilen zum Niederknien – Europas modernster Flughafen, die Berliner Jobmaschine, das größte Infrastrukturprojekt des Ostens, die Hauptstadt boomt. Drei Wochen später beginnen die Ferien, Sommerpause, Berlin liegt am Strand und die deutsche Elf spielt bei der EM. Probleme? Hamwa nich.

Ein Eisklümpchen fällt aus dem Lüftungsschlitz

So kommt es nicht. Der Flughafen, die Peinlichkeit des Jahres. Die Hertha steigt ab und kann ihr Scheitern nicht akzeptieren. „Berlin – wir brauchen keinen Flughafen, um rauszufliegen“, heißt einer der beliebteren Scherze dieser Tage. Und die S-Bahn fährt jeden Tag mit einer anderen Erklärung nicht. Kein Triumph, nirgends. Die Dramaturgie allerdings ist übrig geblieben. Also macht Wowereit am Dienstag den Taufpaten für den Jumbo. Die Klimaanlage hat die Kabinenluft auf Winter heruntergekühlt. Ein Eisklümpchen fällt aus einem Lüftungsschlitz. Der Jet kreist unter den Wolken. Einen schwachen Magen darf man nicht haben. Es ruckelt kräftig. Ein weiterer Tag im Berliner Turbulenzbereich.

Im beigefarbenen Sessel neben dem Bürgermeister sitzt Christoph Franz, Chef der Lufthansa, auch ein Profilächler. Vorher, beim quälenden Sektempfang in der Lounge der Airline, hat Franz über Zuversicht gesprochen. Irgendwann werde der Flughafen Berlin mit Stolz erfüllen, sagte Franz – „trotz der unerwartet verlängerten Vorfreude“. Da haben alle ein bisschen gelacht bis auf den Flughafenchef Rainer Schwarz vielleicht, mit dem sich nicht mal mehr jemand fotografieren lassen möchte. Klaus Wowereit, Aufsichtsratschef der Flughafengesellschaft und oberster Verantwortlicher für das Projekt, lächelte.

Er sah in diesem Moment nicht aus wie jemand, der Schuld hat. Das ist entweder seine Überzeugung oder seine Strategie, die schwierigsten Tage seiner politischen Karriere zu überstehen – oder beides. Zwei Wochen sind vergangen, seit sich die Hauptstadt bis auf die Knochen blamiert hat. Der technische Geschäftsführer Manfred Körtgen musste gehen, der Planungsgesellschaft wurde gekündigt. Jetzt wird gerechnet und der Schwarze Peter hin und her geschoben. Am 22. Juni soll im Aufsichtsrat der Schaden beziffert werden. Schon jetzt ist klar, dass der Kreditrahmen von 2,4 Milliarden Euro nicht ausreichen wird. Berlin, Brandenburg und der Bund werden nachschießen müssen, jeder im dreistelligen Millionenbereich.

Die Frage ist: wer geht bankrott?

Täglich stellen sich neue Fragen. Da ist die Aufarbeitung: Wie konnte das passieren? Wer wusste wann worüber Bescheid? Und wer hätte längst Bescheid wissen müssen? Und da ist der Blick nach vorn: Was wird das am Ende alles kosten? Wer zahlt, wer geht bankrott, und wer übernimmt Verantwortung? Nach dem ersten Schock konzentriert sich nun die Kritik in einem Maß auf den Regierungschef, das er so nicht kennt. Weglächeln, Runterreden oder volle Pulle Dagegenkoffern – die Wowereit’schen Waffen, sie funktionieren nicht.

Dass ihn diese Pleite auch persönlich trifft, zeigen ungewöhnlich dünnhäutige Reaktionen. Er findet es ungerecht, wenn sich die Kritik auf seine Person konzentriert: „Man muss höllisch aufpassen, dass die Verantwortlichkeiten nicht durcheinandergebracht werden“, sagt er. Wowereit regt sich über die Erwartung auf, die an den Aufsichtsrat als Kontrollgremium gerichtet werden. Er lässt sogar darauf verweisen, dass er dort nicht allein sitze, sondern auch sein Potsdamer Kollege Matthias Platzeck und ein Staatssekretär des Verkehrsministeriums. Am schlimmsten aber trifft ihn der Vorwurf der „Wurschtigkeit“, den ihm die Grünen als verschmähter Koalitionspartner machen. Der mag oft zutreffen, diesmal nicht. Das Projekt Flughafen war zum Erfolg verdammt, weil Wowereit es zur Chefsache machte.

Vorerst nimmt sich der Regierungschef aus der Schusslinie, wo es geht. Der Verkehrsausschuss des Bundestages begehrt Auskunft? Absage. Der Haushaltsausschuss des Abgeordnetenhauses will Zahlen hören? Wowereit hat Termine. Das Landesparlament tagt und die Opposition beantragt eine Aktuelle Stunde? Abgelehnt. Der Bundestag debattiert über den Flughafen? Der Ministerpräsident, der Rederecht hätte, bleibt fern.

Ein Landrat muss es richten

„Wir haben es nicht gewusst“, heißt seine Position. Diese Rechtfertigungsstrategie wird auf Dauer nicht genügen. Denn mit jedem Tag wird deutlicher: es gab viele Warnzeichen. Schon der neue Eröffnungstermin – ein Dreivierteljahr später als geplant – sagt viel über die Dimension des Scheiterns. Längst glaubt niemand mehr, dass es allein die nicht funktionierende Brandschutzanlage war, die die Eröffnung verhinderte. Offensichtlich ging man seit Anfang 2012 davon aus, dass der Flughafen zwar nicht fertig, aber mit provisorischen Zwischenlösungen in Betrieb gehen werde.

Auf dem Flughafen war die Misere ein offenes Geheimnis – das nach Einschätzung von Beteiligten einfach negiert wurde, weil der Druck von oben zu groß war. Die kleinen Gewerbetreibenden, die ihre Läden nun nicht eröffnen können, berichten von der Baustellensituation. „Alle ahnten, dass es nicht fertig wird“, sagt eine Händlerin. „Aber wir glaubten den Versprechen der Verantwortlichen, dass es irgendwie in Betrieb geht und dann nach und nach fertig wird.“ Die Berliner Grünen-Abgeordnete Nicole Ludwig, die seit Tagen mit den Händlern spricht, sagt: „Man dachte, der Flughafen wird eröffnet, selbst wenn die Flugzeuge von Hand angeschoben werden müssen.“ Und einer aus der politischen Führungsebene, der nicht genannt werden möchte, sagt: „Wir hatten keine Wahl, als den Planern zu vertrauen, dass es klappt.“

Rätselhaft, wie man so lange blind sein konnte

Wer als Unbeteiligter die geheimen Controllingberichte liest, der fragt sich im Rückblick, wie man an diesem Glauben festhalten konnte. In puncto Sicherheitstechnik und Gebäudeautomation befänden sich die Leistungen „hinsichtlich der Inbetriebnahme am 3. 6. 2012 auf dem kritischen Weg“, heißt es im Bericht vom 20. März. Schon eine Woche zuvor schrieb das Bauordnungsamt des Landkreises Dahme-Spreewald einen Brief an die Flughafengesellschaft, in dem die Fertigstellung angezweifelt wurde. Man sehe die „Umsetzbarkeit der Inbetriebnahme (...) durch die Mensch-Maschine-Kupplung äußerst kritisch.“ Auf Deutsch: Der Flughafen plante, die fehlende Automatik der Brandschutzanlage durch Personal zu ersetzen, das die Entrauchungsklappen steuern sollte. An diesem Verfahren hatte der Landkreis Zweifel. Der Flughafen legte laut Landkreis bis zum Schluss nicht mal einen Plan vor. Man fragt sich: wussten die Verantwortlichen von der Idee mit der manuellen Steuerung? Waren sie bereit, ein Sicherheitsrisiko für Menschen einzugehen, nur um den Termin zu halten? Glaubten sie im Ernst, das würde hinhauen? Im Rückblick, in dem man immer klüger ist, sieht alles so klar aus, und es wirkt so unverständlich, dass so lange niemand wagte, vom Scheitern zu sprechen.

„Es war wohl ein Kompetenzgerangel des Mutes“, sagt Stephan Loge. „Wer wollte schon der Überbringer der schlechten Nachricht sein?“ Loge hat den Job am Ende übernommen. Er hätte den Mut gern anderen überlassen. Aber Loge ist Landrat in Dahme-Spreewald. Am Montag, den 7. Mai saß er mit seiner Mitarbeiterin aus dem Bauamt und den Flughafenchefs Körtgen und Schwarz zusammen. Zwei Tage vorher hatte Körtgen ihm noch versprochen, alles klappe. Jetzt stellte Loge ein Ultimatum. Ein Plan müsse her, bis Dienstag 12 Uhr. Die Herren gingen. An Abend rief Platzeck an. „Stephan, was hör ich da?“ Loge antwortete, er glaube, das Projekt werde scheitern. Tags darauf sagte der Flughafen die Eröffnung ab. Stephan Loge kommt aus Görlitz, er ist in einer Familie groß geworden, die heimlich den Reden Willy Brandts im Bundestag lauschte. „Meine Eltern krochen fast ins Radio rein.“ Nach der Wende trat er in die SPD ein. Er war stolz, dass er als Landrat mitmachen konnte beim „Willy-Brandt-Flughafen“. Dass es vorwärts geht. „Wir sind immer noch enthusiastisch“, sagt er. Ziemlich leise. Auch wenn es langsamer vorwärts geht.

In seiner ersten Regierungserklärung nach dem Debakel hat Klaus Wowereit gesagt: „Der Flughafen ist nach wie vor eine Erfolgsgeschichte.“ Im Moment scheint die spannendste Frage zu sein, wie diese Geschichte weitergeht. Glaubt Wowereit daran, dass Berlin am 17. März 2013 seinen neuen Flughafen eröffnet? Der Bürgermeister steht auf dem Rollfeld, hinter ihm dreht sich sanft die Turbine der A380. Er könnte jetzt einfach Ja sagen. Müsste er eigentlich. Wowereit schaut in die Ferne. „Nach den Berechnungen der Experten ist das möglich.“