Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach bedankt sich mit der Schau „Die Gabe/The Gift“ bei seinen Stiftern. Rund 160 Handschriften, Porträts und Objekte erzählen lebendig vom Schenken, Geben und Erwidern.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Es ist Apfelernte. Auf der Schillerhöhe in Marbach hängen reife Früchte ins Land, haufenweise sammelt sich auf den Wiesen das, was den Genius loci so angetörnt haben soll, wenn es im Zustand des Verfalls aus seiner Schreibtischschublade schwelte. Schillers Vater war ein passionierter Obstbaumzüchter, weshalb heute noch alljährlich am Schillersonntag Besucher der heiligen Stätten rund um das Deutsche Literaturarchiv mit Äpfeln beschenkt werden. Womit wir schon beim Kern angelangt wären: Wie nämlich die Pflege von Gedächtnis, Tradition und Überlieferung mit dem Gestus des Schenkens, Gebens und Stiftens zusammenhängt?

 

Dieser für die Existenz der Marbacher Einrichtungen essentiellen Frage geht die neue Wechselausstellung „Die Gabe/The Gift“ im Literaturmuseum der Moderne nach. Sie ist dem Unternehmer und Mäzen Berthold Leibinger gewidmet, der im Sommer nach fünfzehn Jahren den Vorsitz des Freundeskreises niedergelegt hat. Und sie weist schon im Titel darauf hin, dass es keineswegs nur um einen Kniefall vor dem mäzenatischen Engagement gehen soll, dem sich hier alles verdankt, seit im 19. Jahrhundert kunst- und literaturempfängliche Privatleute den Anstoß für diesen Gedenkort gegeben haben. Die Schau will vielmehr mit allen Mitteln, die großzügige Gönner bereitgestellt haben, das Phänomen und Begriffsfeld der Gabe kultivieren, so gedeihlich wie einst Schillers Vater seine Apfelbäume.

Aus kleinen Kernen sprießen große Bestände

Aber wie zeigt man ein letztlich immaterielles Besitzverhältnis, will man sich nicht mit der Präsentation besonders prächtiger Stücke und der Nennung ihrer Spender begnügen? Fast will es scheinen als würde sich das Problem jeder Literaturausstellung, Dinge zu zeigen, die auf etwas Unsichtbares verweisen, hier in verschärfter Form stellen. Doch die Kuratorinnen Susanna Brogi und Magdalena Schanz, mit beiden Seiten der Medaille wohlvertraut, Kopf und Zahl, Zweck und Mittel, Hermeneutik und Fundraising, haben der schwierigen Aufgabe eine ebenso kluge wie sinnfällige Ausstellung abgewonnen.

Befruchtet von der lokalen Obstbautradition und ihres Einflusses auf die Geistesgeschichte haben sie den Apfel, seit Adam und Eva das Urbild der Gabe überhaupt, in den Mittelpunkt ihrer Erkundung gerückt. Und so entfalten sich die intellektuellen Gaben, die diese Ausstellung bereithält, entlang eines vierstufigen Entwicklungsgangs: vom „Kern“ über „Blüten und Blätter“, das „Gehäuse“ bis zum mythologischen Fruchtfleisch der „Marbacher Pomologie“.

Der erste Raum führt gewissermaßen ins dunkle Erdreich, in dem sich der Kern entfaltet: Wie kostbares Saatgut lagern eine Haarreliquie Schillers, eine Luthermedaille aus dem Besitz Mörikes und ein Paketzettel von Hermann Hesse in gläsernen Behältern – kleine Dinge aus denen große Bestände sprießen. Und mit Blick auf Luther und die gegenwärtig eher unübersichtliche Weltlage lässt sich auf jeden Fall sagen, dass man nie falsch damit liegt, ein Apfelbäumchen zu pflanzen.

Eingefaltete Geschichten und Dramen

Das der beiden Kuratorinnen jedenfalls schlägt erfreulich aus: Im „Saal der Blüten und Blätter“ wird im wahrsten Sinne des Wortes aufgetischt, was die Magazine hergeben. Vor opulenten Gemälden, Schiller, Humboldt, Cotta, Rudolf Binding von Max Beckmann porträtiert, laden die Vitrinen zu einem ideellen Gastmahl. Auch Prassen gehört zum Thema. Und die Namen, die am Unseld-Tisch serviert werden, gehören zum Feinsten vom Feinen: Rilke, Beckett, Frisch – 10 000 Kästen umfasst allein das mittels einer langen Spenderliste erworbene Suhrkamp-Archiv.

Ein offenbar viel genutztes Trinkglas Goethes steht neben einer Apfelstudie von Schillers Schwester, dazu das Apfel-Drama „Wilhelm Tell“, dessen Stoff Goethe dem Freund überlassen hat - auch dies eine Form der Gabe. Die gezeigte Tell-Ausgabe verdankt sich wie so manches in dieser Ausstellung jener mäzenatischen Großtat, durch die die Stuttgarter Zeitung Teil der Geschichte des Deutschen Literaturarchivs geworden ist. In dem der Ordnung des Archivs gewidmeten „Gehäuse“ findet sich der Schenkungsvertrag, mit dem der Gründer der Zeitung, Josef Eberle, den einzigartigen literaturhistorischen Schatz des Cotta-Archivs Marbach überlassen hat.

Das Motiv der Gabe wird von den Objekten nicht nur repräsentiert, sondern weitergesponnen. Dem Prozess des Gebens, Nehmens und Weiterschenkens sind Geschichten und Dramen einbeschrieben, teils auch eingefaltet, wie in jener Manuskriptseite von Kafkas „Prozess“, deren Falz darauf hindeutet, dass der Autor sie seiner Verlobten Felice Bauer überlassen hatte, die sie ihm später per Post wieder zurückgesendet hat.

Bittere Gaben

Der giftige Nebensinn, auf den der Titel der Ausstellung anspielt, findet sich in den bitteren Begleitumständen, in der manche Gabe ihren Empfänger erreicht oder auch nicht: „Ich will freiwillig den letzten Schritt tun. Und in der letzten Minute, das schwöre ich Dir, werde ich an Dich denken und mit heissester Seele wünschen, dass es Dir gut gehen möge“, schreibt Walter Hasenclevers an seine Frau, bevor er sich 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten mit Veronal das Leben nimmt. Anders bitter die Silberschale, mit der Karl Wolfskehl den ihm gegenüber abgekühlten Stefan George wieder erwärmen wollte, was durch dessen Tod hinfällig wurde.

Am Anfang war das Wort heißt eine monumentale Apfelskulptur Jiri Kolars, die das Panorama um den Typus der Leihgabe erweitert. Die Schale der kolossalen Frucht ist zur einen Hälfte aus Versfetzen einer Lutherbibel collagiert, zur anderen aus Kunstschnipseln. Sie beherrscht den letzten Raum, im dem allerlei Apfelerzählungen nach Merkmal und Erscheinungsbild klassifiziert werden: Tell, Schneewittchen, der Hesperidenmythos, das Paradies. Hier finden sich die erschütternden Geschichten, die an den groben Essgeräten von H.G.Adler und Angela Rohr haften, Überlebensbesteck der Chronisten von KZ und Gulag. Ingeborg Bachmann sorgt sich, in welchem Erscheinungsbild ihr Roman „Malina“ in das Paradies der Bücher eingehen wird. Wogegen Mary Tucholsky sich für die Ewigkeit mit den Stoffreliquien rüsten kann, die ihr Mann aus Lourdes gemopst hat, und einem Krönchen, das ihr der Dichter Ernst Toller verehrte.

Vielleicht hätte man sich noch etwas mehr Gift im Hinblick auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gebendem und Nehmendem gewünscht. Dafür löst die Ausstellung aufs Schönste die Verpflichtung ein, die gewährten Gaben zu erwidern. Denn was hier gezeigt wird, ist ein Geschenk an den Betrachter. Selten war ein Besuch in Marbach so fruchtbar.