Jede Zeit bringt besondere Formen des Sexgewerbes hervor. Nach dem Krieg hat sich die Stuttgarter Politik mit der Ruinenprostitution herumgeschlagen, später war es der Drogenstrich. Heute kämpft Oberbürgermeister Fritz Kuhn gegen die Auswüchse der Armutsprostitution aus Osteuropa.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Erst kürzlich erregte Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn mit einer Kampagne Aufsehen, die an das Verantwortungsgefühl von Freiern gegenüber Prostituierten appellierte. Und die Stadt arbeitet an einer neuen Vergnügungsstättensatzung, die Rotlichtbetriebe strenger eingrenzen soll. In Berlin ist ein neues Prostitutionsgesetz in Arbeit. An vielen Stellen ist die Politik gegen die Auswüchse des Sexgewerbes tätig. Wie hat sich das Milieu in Stuttgart entwickelt? Eine Zeitreise.

 

Ein evangelischer Stadtdekan fordert ein Bordell – wo gibt’s so was? In Stuttgart, in den Jahren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Stadt lag in Trümmern, in den Ruinen blühte die Prostitution. „Viele Männer waren in Gefangenschaft, die Frauen mussten sich durchschlagen“, sagt Wolfgang Hohmann, Hauptkommissar bei der Stuttgarter Polizei, Arbeitsbereich Prostitution. Die Folgen damals waren verheerend. Geschlechtskrankheiten breiteten sich aus, jedes Jahr registrierte man in der Hautklinik im Schnitt 600 junge Frauen, sogenannte HwG-Mädchen mit „häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“, die einschlägige Symptome aufwiesen. Dies war einer der Gründe, warum der Stadtdekan, die Polizei sowie der Oberbürgermeister an die US-Militärregierung appellierten, das 1946 verhängte Bordellverbot wieder aufzuheben, schreibt Ina Hochreuther in einem Beitrag zur Prostitutionsgeschichte Stuttgarts in dem Band „Heimlich, still und fleißig?“ zur Frauenarbeit in der Region.

1948 debattiert der Rat erstmals die „Kasernierung von Dirnen“, mit der man mehr Kontrolle über das Geschäft mit dem käuflichen Sex und das Zuhälterwesen bekommen wollte. Im Februar 1957 war es so weit: Im Bebenhäuser Hof wurde ein Wohnheim für Prostituierte eröffnet, ermöglicht von der Stadt, gebaut und betrieben von Privatinvestoren. Die 67 Zimmer in dem Dreifarbenhaus genannten Etablissement hatten Bett, Sitzecke, Schrank. Miete: 15 Mark. Alkohol war nicht erlaubt.

Selige Zeiten, von heute aus betrachtet. „Das war ein mustergültiger Betrieb“, sagt Wolfgang Hohmann, „transparent, mit handschriftlich geführten Büchern, sehr fälschungssicher.“ Im Keller gab’s eine Art Kantine, gekocht wurde Hausmannskost. Die verantwortungsbewusste Verwalterin schaute, „dass die Frauen was Vernünftiges zu essen bekamen“, erzählt die Sozialarbeiterin Sabine Constabel, die sich heute im Leonhardsviertel um die Prostituierten kümmert. „Das hatte Wohnheimcharakter mit ganz bürgerlichem Anstrich, Zuhälter hatten kein Zutritt.“ Mit Rücksicht auf Kirchgänger hatte das Dreifarbenhaus an Sonn- und Feiertagen zu.

Neue Form des käuflichen Sex: Auto-Prostitution

Doch nicht alle Stuttgarter Dirnen waren dort tätig. Auf etwa 2000 Frauen schätzte man 1957 deren Zahl – „65 professionelle Prostituierte, 528 vom Gesundheitsamt erfasste HwG-Mädchen und 1400 Gelegenheitsprostituierte“, anzutreffen in der Altstadt, den Theateranlagen, im Rosensteinpark, auf der Königstraße, dem Hauptbahnhof und der Neckarstraße. Der damals schon wachsende Wohlstand brachte auch eine neue Form der käuflichen Liebe hervor: die Auto-Prostitution.

Anfang der 1970er Jahre setzte ein Wandel des Gewerbes ein. Zwar hatte die Ausweisung eines Sperrbezirks einige Zeit zur Folge, dass sich die Huren von Straßen und öffentlichen Plätzen zurückzogen. Mit dem entstehenden Drogenproblem erschienen dort aber Prostituierte neuen Typs. „Der Drogenstrich war Taktgeber in den 70ern“, sagt Wolfgang Hohmann, auch wenn sie zunächst nur ein kleiner Teil der Rotlichtszene waren. Wegen des Suchtdrucks ließen sich die heroinabhängigen Beschaffungsprosituierten auf billigere Preise und auf Sexualpraktiken ein, die professionelle Huren ablehnten. „Zwischen den beiden Gruppen bestand eine richtige Feindschaft“, sagt Hohmann.

Bis in die 90er gab es einen Drogenstrich

Die oft an Abszessen an den Armen erkennbaren Abhängigen verachteten ihrerseits die anderen Prostituierten. „Die haben sich gesagt: Wie kann man nur so verrückt sein, das zu machen, wenn man nicht suchtkrank ist“, erinnert sich Sabine Constabel. Noch bis in die 90er Jahre gab es einen Drogenstrich in der Stadt, lange Jahre waren nahezu alle auf den Straßen anzutreffenden Huren drogensüchtig. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Therapieplätze fehlten. „Wir haben zeitweise so viele Spritzen wie Kondome ausgegeben“, sagt Sabine Constabel. Das Phänomen Drogenstrich war bald verschwunden, als in Stuttgart die Drogensubstitution eingeführt wurde und die Süchtigen den Ersatzstoff Methadon bekamen. „Die letzten Spritzen haben wir vor 15 Jahren verteilt.“

Zur Verschärfung der Situation trug eine städtebauliche Entscheidung bei: der Bau des Schwabenzentrums in der City, dem die „Vereinigten Hüttenwerke“ weichen mussten. Stuttgarts zentrales Amüsierviertel mit Tanzbars, Striplokalen, Bordellen und Beatclubs, die zu einem guten Teil nur in Baracken untergebracht waren, soll damals nach der Reeperbahn das zweitgrößte Rotlichtquartier der Republik gewesen sein. Der Abriss des vom früheren Oberbürgermeister Klett als „Sündenbabel“ titulierten Komplexes, in dem sich Einheimische und GIs tummelten, hatte Folgen. Jetzt drängte das Milieu stärker auf die andere Seite der Hauptstätter Straße ins Leonhardsviertel und ins Bohnenviertel, machte sich dann mit dem Straßenstrich auch im nahe gelegenen Heusteigviertel breit. Entlang der Olgastraße etablierte sich ein „Babystrich“. „Das war ein riesiges Problem“, sagt Wolf Gläser vom Stadtplanungsamt. Noch heute zeugen die Tag- und Nachtschranken in dem Gründerzeitviertel, mit denen man den Verkehr in dem Wohnquartier eingedämmt hat, von den zuletzt erfolgreichen Abwehrmaßnahmen. Die waren zunächst hart umkämpft. „Die Zuhälter haben am Anfang die Abschrankungen mit Ketten am Fahrzeug rausgezogen“, so Gläser. „Das war ein richtiger Kleinkrieg.“

Sex im Wohnwagen

Auch die Wohnwagenprostitution hat sich in Stuttgart nicht gehalten. Jahrzehntelang standen in Wangen beim Schlachthof an der Ulmer Straße Prostituierte mit ihren Campingwagen, ebenso an der Stresemannstraße auf dem Killesberg. „Die sind der Marktwirtschaft zum Opfer gefallen“, sagt Hauptkommissar Hohmann. Käuflicher Sex im Wohnwagen „in schaurigen Gegenden ohne Sicherheitsinfrastruktur“ sei für die Freier wohl nicht mehr attraktiv genug gewesen. Als zwei Ungarinnen es vor wenigen Jahren unter der Zacke-Brücke an der Neuen Weinsteige noch mal mit der Wohnwagenprostitution versuchten, fanden sie durchaus männliche Kundschaft. Doch der Protest im Umfeld war so groß, dass sie schließlich von dannen zogen.

Immer wieder ging es im Milieu überaus gewaltsam zu. Anfang 1988 verhaftete die Polizei 18 Zuhälter, weil sie beim Kraftwerk in Münster und an der Ulmer Straße in Wangen Frauen brutal ausgebeutet hatten. Im Juli 1987 fand man in einer Absteige an der Leonhardstraße die Leiche von Ute D., sie war nach Schlägen auf den Hals erstickt. Und schon Anfang des Jahrzehnts waren drei Prostituierte getötet worden. In den Jahren 1991, 1994 und 1996 wurden dann drei Kosovo-Albaner und ein Bosnier mit Beziehungen ins Milieu erschossen. Ebenfalls im Jahr 1996 fand man die 26 Jahre alte spanische Prostituierte Francisca Victoria Martinez Garcia erschlagen auf einem Lüftungsgitter am Bopser.

„Billigangebote ganz neuer Art“

Die heutigen Verhältnisse sind geprägt durch die EU-Osterweiterung. Die ersten Frauen, die nach 2003 die neue Freizügigkeit nutzten, kamen aus Ungarn, Tschechien und den baltischen Staaten. Seit einigen Jahren stammen die jungen Frauen, die auf der Straße und in Rotlichtobjekten anschaffen, vor allem aus Rumänien und Bulgarien – die Polizei spricht von 90 Prozent. „Die haben Billigangebote ganz neuer Art auf die Straße gebracht“, sagt Wolfgang Hohmann. Vor Jahrzehnten verdiente eine Prostituierte pro Kunde etwa 100 Mark, nun liege der Standardpreis bei 30 Euro, werde aber auch mal auf 20 Euro heruntergehandelt. „Früher haben die Frauen gut verdient“, sagt Hohmann. In einem Ermittlungsverfahren in den 1970er Jahren habe man ein Sparbuch sichergestellt, das dies belegte. „Die Prostituierte hat täglich 500 Mark eingezahlt.“

Auch das Verhältnis Hure und Freier war anders. „Früher haben die Huren dem Freier gesagt, was läuft“, sagt Hohmann. Sozialarbeiterin Sabine Constabel bestätigt: „Professionelles Anschaffen hieß damals: so wenig Geschlechtsverkehr wie möglich. Sich jeden Tag von zehn Männern penetrieren zu lassen wäre für die Frauen absurd gewesen.“ So habe es zum Standard gehört, dass Prostituierte die Methode des „Falleschiebens“ anwandten – den im Vergleich zu heute ohnehin verschämteren Freiern wurde der Geschlechtsverkehr nur vortäuscht. „Die gingen zufrieden raus, aber es war wenig passiert.“

Die Huren sind jünger denn je

Selbstbewusst sind heute nicht mehr die Huren, sondern die Freier und Bordellbetreiber. „Aus Freiersicht ist das eine Topgeschichte“, sagt Wolfgang Hohmann bissig. Die Prostituierten seien jünger denn je, deutsche oder gar ältere Frauen, wie man sie früher antraf, aus dem Markt verdrängt, die Preise günstig wie nie. Die jungen Osteuropäerinnen, die oft aus Romafamilien stammten, die Gewalt und Ausbeutung erlebt hätten, seien „zutiefst verunsichert“. Nicht wenige seien von den Zuhältern „erpressbar“, weil sie in ihrer Heimat Kinder haben.

Die Bordellbetreiber können die Sache, seit Rot-Grün in Berlin 2003 per Gesetz den Straftatbestand der Förderung der Prostitution abgeschafft hat, entspannter angehen. Der Nachweis, in welchem Maße Zwang gegen die Frauen angewendet wird, ist nur schwer zu führen. Anders als vor Jahrzehnten im Dreifarbenhaus, wird den Frauen heute auch vorgeschrieben, wann sie zu arbeiten, wie sie sich zu kleiden haben, ob sie etwa im Kontaktbereich eines Bordells nackt sein müssen. Wenn eine nicht pariert: Nachschub aus Osteuropa ist jederzeit garantiert.

„Das Milieu hat resigniert“

Und dennoch: Stuttgart sei nicht Berlin, Frankfurt oder Hamburg, wo es Laufhäuser mit 250 Zimmern gebe, sagt Wolfgang Hohmann. Das Dreifarbenhaus ist hier noch immer die mit Abstand größte Einrichtung. Anders als andere Großstädte und manche Umlandgemeinden habe die hiesige Politik das Sexgewerbe „immer restriktiv“ behandelt, so Hohmann. „Das Milieu hat resigniert.“ Es gibt viele Hilfsangebote für Prostituierte, die Polizei ist mit zwölf Beamten vergleichsweise gut besetzt.

Was die Sache nicht wirklich einfacher macht. Rund 1400 Prostituierte wurden im Vorjahr in Stuttgart registriert, etwa 450 sind jeden Tag tätig. Von diesen arbeiten 80 Prozent in den im ganzen Stadtgebiet verteilten 165 Rotlichtobjekten: in Modellwohnungen, kleineren Bordellen, Massagestudios oder irgendwelchen Absteigen. Die Frauen zahlen häufig eine hohe Tagesmiete von mehr als 100 Euro. Für die Sozialarbeiterin Sabine Constabel ist es deshalb keine Frage: „Das Gewerbe ist zwingend auf Zwangsprostituierte angewiesen.“