Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Ebenso klar ist mir auch, dass früher der Strom ausschließlich zum Verbraucher floss. Doch jetzt, wo die Hausdächer mit Solaranlagen überzogen sind, fließt der Saft zusätzlich in umgekehrter Richtung. Klar wird mir zudem, dass sich das Netz gerade explosionsartig ausdehnt. Früher hat man die Kraftwerke direkt neben die Fabriken gebaut, damit die 380 Kilovolt frisch vor Ort in die hungrigen Mäuler der Maschinen gestopft werden konnten, wie etwa das Altbacher Kraftwerk die Autoproduktion von Daimler füttert.

 

Aber warum kann das alte Netz den neuen Strom der Energiewende nicht bewältigen? Den Drähten ist es doch wurscht, ob sie in Altbach gefüllt werden oder an der Alster. Schweigen, dann spricht Guntram Zeitler – mit der Zärtlichkeit, die man kleinen Kindern entgegenbringt – vom „Gleichgewicht“: Der Puls des Stromnetzes muss immer bei 50 Hertz schlagen. Drängt zu viel Strom ins Netz, steigt sein Hertzschlag. Die Glühbirne brennt heller, der Kuchen wird dunkler, und in den Fabriken haut es die Sicherungen raus.

Damit das nicht passiert, gibt es die Hauptschaltleitung. Einen Stock tiefer arbeiten je zwei Männer in drei Schichten 365 Tage im Jahr. Über eine Sicherheitsschleuse, die nur eine Person durchlässt und sich erst nach einiger Zeit für eine zweite Person öffnet, gelangen wir zu Jürgen Olbrisch und Albrecht Schneider. Sie sitzen in einer Art Kommandozentrale, wie sie mir von „Raumschiff Enterprise“ seit früher Fernsehjugend vertraut ist. Nicht nur, weil man hinten höher sitzt als vorn, sondern weil zwei Männer in Ledersesseln mit Bedienelementen vor dem gewaltigsten Bildschirm arbeiten, den ich je gesehen habe. Weil man auch im Stromgeschäft geerdet sein sollte, können sie ihre Augen links in einem japanischen Gärtlein erholen, das durch eine Glasfront sichtbar ist.

Die Wetterprognose im Blick

Olbrisch nimmt das Telefon ab, murmelt, legt es wieder auf. Nimmt das Telefon ab, murmelt. Nacheinander melden sich Techniker, die irgendwo in Baden-Württemberg die Verteilstationen reparieren. Olbrisch muss wissen, ob sie heil herausgekommen sind, um den Strom wieder fließen zu lassen. Lautlos wandern die Kurven durch die Bildschirme, es sind mehr als im Tower des Stuttgarter Flughafens. Sie zeigen die Stromproduktion, das Wetter und die Netzstabilität sowie die wetterabhängigen Stromprognosen an. Immer mehr wird die Stromerzeugung von Wolken und Wind geprägt, anders als früher, als das Stromnetz von gleichmäßig brennender Kohle oder gespaltenem Uran versorgt wurde.

Zeitler weiß, dass eine große Überlandleitung hauptsächlich aus Aluminiumdraht besteht, damit das Gewicht gering bleibt. Er weiß, dass die meterhohen Keramikisolatoren deswegen geringelt sind, damit von einem Ring das Wasser auf den anderen tropft und ihn sauber wäscht. Er weiß, dass ein Kilometer Freilandleitung 1,3 Millionen Euro kostet und ein Kilometer Erdkabel zwischen sechs und 13 Millionen Euro. Beeindruckend, aber ich weiß immer noch nicht, wie das mit der Energiewende ist.

Anmutig lächelt Anja Brötel, während die Jalousie schwarze Schattenstreifen auf den Tisch wirft. Vier Netze liegen übereinander, zumindest in ihrem Schaubild. Das 380- und 220- Kilovolt-Netz führt den Strom durch das Land, das 110-Kilovolt-Netz verteilt ihn in die Regionen, das 20-Kilovolt-Netz bringt ihn in die Städte, und das 230-Volt- oder 400-Volt-Netz führt ihn zum Akku von Guntram Zeitlers Laptop, der jetzt streikt. Während die Präsentation wieder hochfährt, wird mir klar, dass hier offensichtlich Ebenen über Ebenen liegen.

Explosionsartige Ausdehnung

Ebenso klar ist mir auch, dass früher der Strom ausschließlich zum Verbraucher floss. Doch jetzt, wo die Hausdächer mit Solaranlagen überzogen sind, fließt der Saft zusätzlich in umgekehrter Richtung. Klar wird mir zudem, dass sich das Netz gerade explosionsartig ausdehnt. Früher hat man die Kraftwerke direkt neben die Fabriken gebaut, damit die 380 Kilovolt frisch vor Ort in die hungrigen Mäuler der Maschinen gestopft werden konnten, wie etwa das Altbacher Kraftwerk die Autoproduktion von Daimler füttert.

Aber warum kann das alte Netz den neuen Strom der Energiewende nicht bewältigen? Den Drähten ist es doch wurscht, ob sie in Altbach gefüllt werden oder an der Alster. Schweigen, dann spricht Guntram Zeitler – mit der Zärtlichkeit, die man kleinen Kindern entgegenbringt – vom „Gleichgewicht“: Der Puls des Stromnetzes muss immer bei 50 Hertz schlagen. Drängt zu viel Strom ins Netz, steigt sein Hertzschlag. Die Glühbirne brennt heller, der Kuchen wird dunkler, und in den Fabriken haut es die Sicherungen raus.

Damit das nicht passiert, gibt es die Hauptschaltleitung. Einen Stock tiefer arbeiten je zwei Männer in drei Schichten 365 Tage im Jahr. Über eine Sicherheitsschleuse, die nur eine Person durchlässt und sich erst nach einiger Zeit für eine zweite Person öffnet, gelangen wir zu Jürgen Olbrisch und Albrecht Schneider. Sie sitzen in einer Art Kommandozentrale, wie sie mir von „Raumschiff Enterprise“ seit früher Fernsehjugend vertraut ist. Nicht nur, weil man hinten höher sitzt als vorn, sondern weil zwei Männer in Ledersesseln mit Bedienelementen vor dem gewaltigsten Bildschirm arbeiten, den ich je gesehen habe. Weil man auch im Stromgeschäft geerdet sein sollte, können sie ihre Augen links in einem japanischen Gärtlein erholen, das durch eine Glasfront sichtbar ist.

Die Wetterprognose im Blick

Olbrisch nimmt das Telefon ab, murmelt, legt es wieder auf. Nimmt das Telefon ab, murmelt. Nacheinander melden sich Techniker, die irgendwo in Baden-Württemberg die Verteilstationen reparieren. Olbrisch muss wissen, ob sie heil herausgekommen sind, um den Strom wieder fließen zu lassen. Lautlos wandern die Kurven durch die Bildschirme, es sind mehr als im Tower des Stuttgarter Flughafens. Sie zeigen die Stromproduktion, das Wetter und die Netzstabilität sowie die wetterabhängigen Stromprognosen an. Immer mehr wird die Stromerzeugung von Wolken und Wind geprägt, anders als früher, als das Stromnetz von gleichmäßig brennender Kohle oder gespaltenem Uran versorgt wurde.

Albrecht Schneider hat die Prognose im Blick. Klettert der Wetterfrosch nach oben, dann sinkt der Preis. Denn jedes Elektron aus erneuerbarer Energie, das Schneider nicht benötigt, muss er nebenher aus der Hauptschaltleitung heraus an der Leipziger Stromhandelsbörse online verkaufen. Manchmal zum Nulltarif, wenn ein hohes Sonnenscheinangebot erbarmungslos auf eine geringe Sonntagnachmittagsnachfrage trifft; und ganz selten, meist wenn der Wetterbericht komplett falsch lag, muss die Transnet draufzahlen.

Die Transnet sieht die Verluste jedoch relativ gelassen, schließlich holt sie sich die Kosten über Umwege vom Kunden wieder. Das Stöhnen über hohe Strompreise interessiert in Berlin und Brüssel kaum jemanden – so ist halt der Markt. Jede Viertelstunde wandert die Kurve weiter, und dann weiß Albrecht Schneider, wie viel Strom für den Verkauf übrig ist.

Die osteuropäischen Drähte glühen

Unterdessen räumt Guntram Zeitler mit dem Mythos auf, dass allein die norddeutsche Energiespringflut die Netze in Polen oder Tschechien killen würde. „Wir haben das untersucht“, sagt er, „der Andrang hatte nicht nur mit der Windenergie zu tun, sondern mit dem Handel.“ Sprich: aus diesen Ländern war viel nach Deutschland verkauft worden, was die osteuropäischen Drähte zum Glühen brachte. Jürgen Olbrisch, ein gemütlicher Ingenieur aus Richtung Ruhrpott, fasst den Sachverhalt für mich besonders laienfreundlich in einem Satz zusammen: „Wenn der Strom reindrückt, dann müssen wir dagegendrücken.“

Ein Gong ertönt. Er signalisiert nicht den Ladenschluss an der Strombörse, sondern einen Alarm. Ein weißer Kreis leuchtet auf, jetzt hat die Leitung nach Villingen 60 Prozent Belastung. Das erste, jedoch kein ernstes Warnzeichen. Es ist nicht nötig dagegenzudrücken und Kraftwerke hochzufahren. Sollte die Überlastung steigen, könnten die beiden Männer versuchen, den Strom umzuleiten oder die Windenergie abzuschalten. Letzteres tun sie nur im Notfall, weil die Windenergie laut Gesetzgeber immer Vorfahrt hat. Strom umzuleiten ist schwierig, weil dann womöglich eine andere Leitung überlastet wird. Also fahren sie Kraftwerke hoch. So entsteht das Paradox, dass wegen der Windenergie aus dem Norden Kohle- und Atomkraftwerke im Süden hochfahren müssen, damit sich die 50 Hertz im Netz nicht hochschaukeln. Aber diese doppelte Belastung vertragen die Drähte nicht.

Ist das das Problem der Energiewende? „Genau das“, antwortet Anja Brötel. Und was tun wir dagegen?“ „Wir brauchen vier neue Stromtrassen für Gleichstrom mit insgesamt 2000 Kilometer Länge, die von Flensburg in Richtung Bodensee gehen. Zusätzlich bauen wir 1700 Kilometer neue Wechselstromleitungen und ertüchtigen 4400 Kilometer alte Wechselstromleitungen. Das wird 21 Milliarden Euro kosten.“ Und wann bauen wir die? „Im Jahr 2020 wollen wir fertig sein.“ Warum nicht früher? „Haben Sie schon mal eine Trasse gebaut?“ Nein, aber ich kann mir denken, wo die Schwierigkeiten liegen: Begriffe wie Planfeststellung, Anhörung der Träger öffentlicher Belange oder Bürgerinitiative wirbeln mir durch den Kopf.

Die Arbeit wir immer komplizierter

Die beiden Ingenieure stärken sich mit Kaffee und wenden sich ihrer Arbeit zu. Ich überlege mir im Stillen, dass jeder im Physikunterricht gelernt haben sollte, dass man laut dem Energieerhaltungssatz Energie weder erzeugen noch verbrauchen kann, höchstens umwandeln, und dass der Begriff erneuerbare Energie folglich genauso falsch ist wie die Bezeichnung Energieerzeuger.

Die 60-Prozent-Warnung ist erloschen, der Bildschirmhintergrund wieder gleichmäßig schwarz. Solche Warnungen sind es, die in Zukunft die Arbeit von Jürgen Olbrisch und seinen Kollegen bestimmen werden, weil der Anteil an schwer berechenbarer Fotovoltaik und Windenergie steigt. Hinter den Zäunen und Mauern in der Wendlinger Ohmstraße sitzen Männer, ohne die in Baden-Württemberg nicht einmal mehr ein Zigarettenautomat funktionieren würde. Hinter diesen Zäunen und Mauern wohnt die Zukunft, verwaltet von der Besatzung einer Hauptschaltleitung.