Der Heimatforscher Kronenwetter weiß freilich auch, dass sein von Stolz geprägtes Bild manches unterschlägt, was die Jenischen im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben. Verbürgt ist nicht viel, ihre Geschichte ist ja kaum erforscht. Gesichert ist, dass nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs heimatlose Jenische über Deutschland, Österreich, Frankreich und die Schweiz verstreut waren.

 

Gesichert ist, dass den Jenischen auch in den Dörfern der heutigen Gemeinde Fichtenau vonseiten der Bauern nicht viel Sympathie entgegenschlug. Für Schutzgeld hatten sie von den Herrschenden die Erlaubnis erkauft, sich niederzulassen und Handel zu treiben. „Im 30j. Krieg verödete W. (Wildenstein) fast völlig, deshalb siedelte die Herrschaft nach Kriegsende besitzlose, meist katholische Fremde an. Diese widmeten sich wegen mangelnden Ackerlandes dem Hausierhandel, besonders mit Sämereien, Spiegeln und anderen Waren“, hieß es noch 1980 in der amtlichen Kreisbeschreibung von Crailsheim.

„Mangelndes Ackerland“ und „sich widmen“ – hinter diesen schönfärberischen Begriffen stehen handfeste Zwänge. Hasso von Haldenwang, Jahrgang 1942, Rechtsanwalt im Ruhestand, ist in Wildenstein aufgewachsen und hat für sein Buch „Die Jenischen. Erinnerungen an die Wilden-steiner Hausierhändler“ umfangreiches Quellenmaterial zur Geschichte der Minderheit zusammengetragen. Es beschreibt anschaulich und minutiös die „fast unüberwindlichen Vorurteile, Widerstände, Verkrustungen, aber auch Ängste“. Rechtlich waren die Händler im 18. Jahrhundert zwar keine Leibeigenen wie die Bauern, faktisch wirkten sich die Abgaben aber wie eine Erstreckung der Leibeigenschaft auf die Zugewanderten aus.

Hauszinsen, Kopfgelder, Gewerbesteuern und Gebühren für häufig zu erneuernde Passdokumente beuteten die Zugewanderten derart aus, dass viele sich zum Betteln gezwungen sahen. Im 19. Jahrhundert waren in Jakob Kronenwetters Heimatdorf Unterdeufstetten 289 Jenische – vorwiegend Geschirrhändler – von 693 Einwohnern dokumentiert, mehr als ein Drittel also. Württembergweit lebten die meisten Hausierer anno 1893 im Oberamt Crailsheim, nämlich 825.

Von den Nazis verfolgt

Erst im 20. Jahrhundert – zu Emilie Kronenwetters Zeit – verbesserten sich die Lebensumstände der Jenischen. Davon zeugt ein Reisewagen aus dem Jahr 1910, der, frisch restauriert und detailgetreu ausgestattet, jetzt im Hohenloher Freilandmuseum zu sehen ist. Bis in die 1950er Jahre gehörten solche Wagen zum Straßenbild auf dem Land. Die geschliffenen Fenstergläser zeugen von Reichtum. Ursprünglich mit hölzernen Speichenrädern bestückt, wurden die rund sechs Meter langen, zweieinhalb Meter breiten und drei Meter hohen Wagen nach dem Zweiten Weltkrieg auf luftbereifte Räder umgerüstet und von Traktoren oder Autos gezogen.

Das Reisen im Blut

Das Leben des fahrenden Volkes fesselt den 69-Jährigen, zahlreiche Bilder und Geschichten hat er in mehr als 30 Jahren gesammelt. Am Esstisch sitzend blättert er in seinem Bildband „Das Reisen im Blut – über 100 Jahre Fichtenauer fahrende Leut’“. Er zeigt auf eine Aufnahme seiner Großmutter, der Hausierhändlerin Emilie. „Sie war eine robuste, selbstbewusste und fleißige Frau“, erzählt ihr Enkel, „sie hat das Geld verdient.“ Davon zeugt das aus dem Jahr 1935 stammende Foto der groß gewachsenen Frau, die sich von Tochter Elisabeth das Essen servieren lässt. Eine Aufnahme von 1907 zeigt Großvater Josef und Großmutter Emilie stolz vor ihrem zweispännigen Wagen, neben ihnen ein großer Hund. „Alle Jenischen hatten einen Tschuggel (Hund)“, erklärt Jakob Kronenwetter, „klar, sie hatten Geld dabei.“

Kronenwetters historische Fotografien erzählen von der Reis’, die traditionell an Lichtmess begann. Mit ihren Wagen, die erst von Pferden, später von Autos gezogen wurden, fuhren die Jenischen übers Land und verkauften ihre meist eigengefertigten Produkte: Bürsten, Textilien, Geschirr. Zu Allerheiligen kehrten sie in ihre Häuser zurück. Großmutter Emilie belieferte Bauern, Bürger, Gastwirtschaften und Hotels. „Bis ins Schneefernerhaus an der Zugspitze ist sie gekommen“, hat der Enkel recherchiert, „da ist sie mit der Zahnradbahn hochgefahren.“ Gute Ware war Ehrensache und Notwendigkeit zugleich: „Niemand wurde übers Ohr gehauen, man wollte ja im nächsten Jahr wiederkommen.“

Kronenwetter erzählt, dass die Jenischen meist untereinander heirateten und als Gemeinschaft zusammenhielten. Er berichtet von Hochzeitsladern, vom Tellerwalzer und von der Leichmahnerin, die sich mit der Erinnerung, für den Toten den Rosenkranz zu beten, ein kleines Nebeneinkommen verdiente. „Das Jenische“, sagt er, „ist eine jahrhundertealte, eigenständige Kultur, deren Erinnern man nicht nur den Gatsche (Leuten) überlassen sollte.“ Untrennbar mit ihr verbunden ist die jenische Sprache, die Kronenwetter noch zu diebern (sprechen) versteht – eine Geheim- und Berufssprache, die man noch heute auf Krämermärkten hören kann. Ihre Sprache ist, mehr als jede Ortszugehörigkeit, was die Jenischen verbindet.

Heimatlos

Der Heimatforscher Kronenwetter weiß freilich auch, dass sein von Stolz geprägtes Bild manches unterschlägt, was die Jenischen im Laufe der Jahrhunderte erlitten haben. Verbürgt ist nicht viel, ihre Geschichte ist ja kaum erforscht. Gesichert ist, dass nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs heimatlose Jenische über Deutschland, Österreich, Frankreich und die Schweiz verstreut waren.

Gesichert ist, dass den Jenischen auch in den Dörfern der heutigen Gemeinde Fichtenau vonseiten der Bauern nicht viel Sympathie entgegenschlug. Für Schutzgeld hatten sie von den Herrschenden die Erlaubnis erkauft, sich niederzulassen und Handel zu treiben. „Im 30j. Krieg verödete W. (Wildenstein) fast völlig, deshalb siedelte die Herrschaft nach Kriegsende besitzlose, meist katholische Fremde an. Diese widmeten sich wegen mangelnden Ackerlandes dem Hausierhandel, besonders mit Sämereien, Spiegeln und anderen Waren“, hieß es noch 1980 in der amtlichen Kreisbeschreibung von Crailsheim.

„Mangelndes Ackerland“ und „sich widmen“ – hinter diesen schönfärberischen Begriffen stehen handfeste Zwänge. Hasso von Haldenwang, Jahrgang 1942, Rechtsanwalt im Ruhestand, ist in Wildenstein aufgewachsen und hat für sein Buch „Die Jenischen. Erinnerungen an die Wilden-steiner Hausierhändler“ umfangreiches Quellenmaterial zur Geschichte der Minderheit zusammengetragen. Es beschreibt anschaulich und minutiös die „fast unüberwindlichen Vorurteile, Widerstände, Verkrustungen, aber auch Ängste“. Rechtlich waren die Händler im 18. Jahrhundert zwar keine Leibeigenen wie die Bauern, faktisch wirkten sich die Abgaben aber wie eine Erstreckung der Leibeigenschaft auf die Zugewanderten aus.

Hauszinsen, Kopfgelder, Gewerbesteuern und Gebühren für häufig zu erneuernde Passdokumente beuteten die Zugewanderten derart aus, dass viele sich zum Betteln gezwungen sahen. Im 19. Jahrhundert waren in Jakob Kronenwetters Heimatdorf Unterdeufstetten 289 Jenische – vorwiegend Geschirrhändler – von 693 Einwohnern dokumentiert, mehr als ein Drittel also. Württembergweit lebten die meisten Hausierer anno 1893 im Oberamt Crailsheim, nämlich 825.

Von den Nazis verfolgt

Erst im 20. Jahrhundert – zu Emilie Kronenwetters Zeit – verbesserten sich die Lebensumstände der Jenischen. Davon zeugt ein Reisewagen aus dem Jahr 1910, der, frisch restauriert und detailgetreu ausgestattet, jetzt im Hohenloher Freilandmuseum zu sehen ist. Bis in die 1950er Jahre gehörten solche Wagen zum Straßenbild auf dem Land. Die geschliffenen Fenstergläser zeugen von Reichtum. Ursprünglich mit hölzernen Speichenrädern bestückt, wurden die rund sechs Meter langen, zweieinhalb Meter breiten und drei Meter hohen Wagen nach dem Zweiten Weltkrieg auf luftbereifte Räder umgerüstet und von Traktoren oder Autos gezogen.

Gehörten bis zur Machtübernahme der Nazis Diskriminierungen bereits zum Alltag, schlug den Jenischen danach offener Rassismus entgegen. Bei der zentralen Gedenkfeier des baden-württembergischen Landtags zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus wurde 2014 erstmals auch der Jenischen gedacht. In seiner Rede in Fichtenau erinnerte der damalige Landtagspräsident Guido Wolf an die Verbrechen gegen das fahrende Volk: „Die Jenischen fielen durch das abartige Raster des NS-Staates und gerieten in die Fänge des braunen Verfolgungs- und Vernichtungsapparats, weil sie wegen ihres jahrhundertealten fahrenden Lebensstils als asozial diffamiert und als besonders minderwertig gebrandmarkt wurden.“ Man entzog ihnen die Wandergewerbescheine und kriminalisierte damit ihre Berufe. Wie viele Jenische in Lager- oder KZ-Haft waren und darin umkamen, wie viele zwangssterilisiert wurden, ist nicht erforscht.

Wie die Kronenwetters bekennen sich in Deutschland rund 40 000 Menschen – viele von ihnen in Süddeutschland – zum Jenischen, sagt der Museumsleiter und Kulturwissenschaftler Michael Happe. Andere, wie die Familie des Europapark-Gründers Franz Mack, wollen mit ihrer Herkunft nichts zu tun haben.

Lediglich in der Schweiz sind die Jenischen als nationale Minderheit anerkannt. In Singen am Hohentwiel kämpft der Jenische Alexander Flügler um eine Kultur- und Begegnungsstätte samt Mustersiedlung – bislang ohne Erfolg. Im Hohenlohischen, immerhin, ist der unbekannten Minderheit ein Gedenkstein auf dem Friedhof gewidmet: „Fichtenau gedenkt der jenischen Opfer des Nationalsozialismus“, steht darauf geschrieben.