Vera Nkenyi Ayemle nimmt Flüchtlinge aus Afrika an die Hand. Die Kamerunerin weiß aus eigener Erfahrung, welche Ansprache sie in diesen Tagen brauchen. Ein Besuch in ihrem Esslinger Turm.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Esslingen - In der Esslinger Altstadt zeugt ein 800 Jahre alter, massiger Turm von der Wehrhaftigkeit der einstigen Reichsstadt. Im Mittelalter boten die Buckelquader den Bürgern Schutz vor einfallenden Soldaten. In der jüngeren Vergangenheit diente der Schelztorturm, der eine Eisdiele beherbergt, eher als touristische Attraktion. Seit der Verein Sompon im vergangenen Jahr in den obersten Stock eingezogen ist, scheint das historische Gemäuer seine ursprüngliche Bestimmung wiedergefunden zu haben. Die dicken Mauern dienen nun Bürgern als Schutzraum, die neu sind in Esslingen: Flüchtlingen aus Afrika.

 

Die Vereinsgründerin ist die Kamerunerin Vera Nkenyi Ayemle. Man muss durch einen dunklen Flur auf knarzenden Treppen zu ihr hinaufsteigen bis zu einer Holztür kurz unter dem Dach. Öffnet man diese, schlägt einem Wärme von voll aufgedrehten elektrischen Heizkörpern entgegen und die schallende Stimme der Turmherrin: „Herein, herein“, ruft sie aus dem hinteren von zwei kleinen Räumen. Hinter dem Schreibtisch erhebt sich mit strahlendem Lächeln eine kleine, kräftige Frau. Sie trägt einen eleganten schwarzen Anzug über einer knallroten Bluse. Ihr Händedruck ist fest. Sie reicht die linke Hand, die rechte steckt in einem Verband. „Sehnenscheidenentzündung“, erklärt sie. „Vom vielen Projektanträgeschreiben.“

Vera Nkenyi Ayemle gründete Sompon Socialservice vor acht Jahren in ihrem Wohnzimmer in Oberesslingen. In Kamerun bedeutet Sompon „etwas Schönes“. Das will sie vor allem jenen bereiten, die sich in Esslingen fremd und allein gelassen fühlen. „Ich kam vor 13 Jahren als Studentin nach Deutschland und fand mich lange nicht zurecht“, sagt sie. „Wer nicht in die deutsche Gesellschaft hineingeboren wird, braucht Jahre, um Verhalten und Denkweise der Deutschen zu begreifen.“ Eine harte Lektion erteilte ihr ausgerechnet ein befreundeter Kameruner. „Ich war hungrig und pleite, daher bat ich ihn, mir etwas Geld für den Einkauf zu leihen“, sagt sie. In Kamerun setze man sich in so einem Fall einfach beim Nachbarn mit an den Tisch. Der Landsmann ließ sie aber abblitzen mit den Worten: „Hier musst du autonom sein.“ Es war das letzte Mal, dass sie jemanden in Deutschland um Geld bat. „Diese Worte haben sich in mein Herz eingebrannt.“

Ihr Mann kam als Flüchtling und arbeitet jetzt bei Daimler

Mittlerweile ist die Kamerunerin in Esslingen „angekommen“, wie sie sagt. Mit ihrem Mann – ebenfalls ein Kameruner, der als Flüchtling kam und heute für Daimler arbeitet – und ihren beiden Kindern lebt sie in einem Mehrfamilienhaus. Sie alle haben auch einen deutschen Pass. Womit die Kamerunerin in Berührung kommt, immer möchte sie Verantwortung übernehmen: als Elternbeirätin in der Schule ihres Sohnes, im Fachrat für Migration und Integration, in Arbeitskreisen des Forums der Kulturen, im Vorstand des Stadtjugendrings. 2014 kandidierte sie sogar für den Gemeinderat. Ein Ausmaß an Engagement, das manchem Ur-Esslinger schon wieder sauer aufstößt. „Wo nimmt sie nur all die Zeit her?“ oder „Wie geht das denn finanziell?“, wird misstrauisch hinter ihrem Rücken gefragt. Die 36-Jährige amüsiert sich darüber. „Entweder sind wir Migranten zu faul oder zu fleißig. Man kann es nie recht machen.“

An diesem Morgen sind Peter und Simon zu ihr hinaufgestiegen. Peter – der wie alle anderen genannten Flüchtlinge nicht mit seinem wahren Namen in der Zeitung stehen will – kam vor einem Jahr nach Esslingen. Als Gambier hat der 40-Jährige wenig Aussichten, einen der kostenlosen Deutschkurse zu besuchen. Simon aus Kamerun ist Ingenieur, lebt seit 18 Jahren in Deutschland und arbeitet für Bosch. Als er und seine schwangere Frau nach einer Haushaltshilfe suchten, die ihre Kinder von der Schule abholt, schlug Vera Nkenyi Ayemle „Onkel Peter“ vor. „Ursprünglich dachten wir an eine Frau“, sagt Simon. „Aber meine Kinder sind ganz vernarrt in Onkel Peter.“ Peter bekommt für seinen Einsatz eine „Aufwandsentschädigung“, sein erstes selbst verdientes Geld. Er will es zurücklegen für einen privaten Sprachkurs. Er will mit Simons Kindern Deutsch sprechen. Er wird täglich sein Zimmer verlassen und mit anderen Pendlern in der Bahn unterwegs sein. Vielleicht wird er sich auch ein wenig zugehörig fühlen.

Am Nachmittag erklimmen Kebba und Musa die Turmstufen – wie jeden Freitag um diese Zeit. Konkrete Anliegen haben die beiden Gambier nicht. „Dieses Zusammensitzen, bei dem man sich Zeit nimmt und über alles und nichts spricht, ist typisch für unsere Kultur“, sagt Vera Nkenyi Ayemle. „Das gibt Stabilität.“ Im Nebenzimmer plappern Kinder. Die Grundschüler Lidwine, Lucy und Gael machen mit Steffi Hausaufgaben. Steffi ist eine von vielen Ehrenamtlichen, mit denen Sompon zusammenarbeitet. Gael hat einen Schneeball von draußen mitgebracht und hält ihn jedem kurz unter die Nase.

„Ein paar deiner Brüder sind hier“

Während sie so beisammensitzen, klingelt das Telefon. „Ob das die Neuen sind?“ Am Tag zuvor traf Vera Nkenyi Ayemle im Supermarkt vier Afrikaner, die gerade angekommen waren. Das erkannte sie an den Produkten in ihren Einkaufswagen: einzelne Zwiebeln statt des günstigeren Kilosacks, teure Markenprodukte, Bio-Eier. „Als dann einer der Männer an der Kasse nach einer Prepaid-Karte im Wert von fünf Euro fragte, war mir alles klar“, sagt Nkenyi Ayemle. Sie lud sie in den Schelztorturm ein. Jetzt stehen sie am Esslinger Bahnhof und fragen nach dem Weg. „Kebba“, sagt Vera, „ein paar deiner Brüder sind hier. Tu mir bitte den Gefallen und hole sie ab.“

Kurz darauf ist das Büro voller junger Männer. Jeder begrüßt jeden, eine halbe Ewigkeit vergeht. Sie sprechen Pidgin-Englisch miteinander, einen Dialekt mit stark vereinfachter Grammatik. Das verstehen alle. Vera Nkenyi Ayemle räuspert sich und erhebt die Stimme. „Das Erste, was ihr wissen müsst: in diesem Land sind wir nicht Eritreer, Gambier, Kameruner oder Somalier. Wir sind hier einfach Afrikaner! Und deshalb müssen wir zusammenhalten.“ Die Männer nicken stumm. Sie hängen an ihren Lippen. Zum ersten Mal spricht jemand zu ihnen, der weiß, wo sie herkommen und wo sie hinwollen.

Nkenyi Ayemle erzählt Geschichten von anderen Afrikanern, die Mut machen. Sie machen heute Ausbildungen oder arbeiten, haben Familien, bleiben. Dann zeigt sie ihre fünf Finger: „Jeder von euch ist anders, wie diese Finger. Wenn dein Nachbar den ganzen Tag schläft, musst du nicht auch schlafen. Wenn dein Nachbar sein Geld für teure Kleider ausgibt, musst du das nicht nachmachen. Spare es für deine Ziele. Jeder von euch hat Ziele, oder? Vergesst nie, warum ihr hierhergekommen seid.“

„Fragt jeden Deutschen, was ihr für das Land tun könnt“

Dann geht sie ins Detail. „Kopiert dieses Dokument“, sagt sie und zeigt auf ein Formular, das jeder von ihnen mit sich herumträgt. „Da steht drauf, seit wann ihr in Deutschland seid. Wenn ihr irgendwann Ausweise bekommt, nehmen sie es euch ab. Ohne Kopie könnt ihr dann nicht mehr belegen, seit wann ihr wirklich in Deutschland seid. Ihr verliert Monate.“ Sie spricht über den rechtlichen Status von Gambia und Somalia. „Für eure Länder gibt es keine klare Regelung. Darum lernt Deutsch, macht eine Ausbildung, engagiert euch, fragt jeden Deutschen, dem ihr begegnet, was ihr für das Land tun könnt. Wenn ihr nur auf die Behörden wartet, werdet ihr krank.“ Einer der Männer sagt, er wolle sofort anfangen mit Deutschlernen. Sein Nebensitzer zeigt ihm sein Handy: Er habe sich Lern-Apps runtergeladen, sagt er und demonstriert sein Können auf Deutsch: „Ich komme aus Somalia.“

Vera Nkenyi Ayemle fordert Kebba und Musa auf, von ihren Erfahrungen zu berichten. „Was könnt ihr euren Brüdern mit auf den Weg geben?“ Kebba überlegt und sagt leise: „Wenn sich Unheil zusammenbraut, geht schnell weg. Ihr zieht immer den Kürzeren.“ Er erzählt, wie er und sein Freund es nicht mehr im Wohnheim ausgehalten hätten und eine Disco im Esslinger Dick-Areal hätten besuchen wollen. Der Türsteher habe sie nicht hineingelassen.

Vera Nkenyi Ayemle wedelt die bedrückende Stimmung beiseite. „Wie wär’s, ihr macht einfach gemeinsam Party? Ihr braucht gar keine Disco, um Spaß zu haben. Musa, du kochst Domoda, das kannst du doch so gut.“ Domoda ist ein gambisches Fleischgericht mit Erdnusssoße. Musa lässt sich breitschlagen. Sie tauschen Handynummern aus. „Spielt ihr Fußball?“, fragt Musa die Neuen zum Abschied. Alle nicken. „Kommt doch am Mittwoch zum Kicken nach Esslingen-Weil.“ Fragende Blicke. Nkenyi Ayemle ahnt warum. „Der Verein übernimmt die Fahrkarte“, sagt sie.

Gospel in Göppingen

Nach dem Studium bot Nkenyi Ayemle mehreren Einrichtungen an, sich ehrenamtlich für afrikanische Migranten zu engagieren. Wo sie auch anklopfte, ihr Angebot wurde abgelehnt. „Wir wollen den Kreis nicht weiter öffnen“ oder „Die Stadt macht schon genug für Migranten“ oder „Sie stellen doch nur eine Minderheit dar“, habe man ihr erklärt. Die Sozialpädagogin nennt das „strukturellen Rassismus“. Erst als sie Sompon gründete und die Zahl der Mitglieder anschwoll, fingen die Behörden an, sie ernst zu nehmen und zu kooperieren. „Vielen Deutschen ist nicht klar, dass jeder Migrant, egal wo er herkommt, zuerst die Nähe zu seinesgleichen sucht“, sagt sie. Eine „Community“ zu haben stehe für sie nicht im Widerspruch zur Integration.

Ihre Community ist die Göppinger Kirchengemeinde Deeper Christian Life Church, wo sie jeden Sonntag mit anderen Schwarzafrikanern Gospel singt. Wo sie schallend lachen kann, ohne skeptische Blicke zu ernten. „Jeder soll so bleiben können, wie er ist, aber gleichzeitig in allen gesellschaftlichen Bereichen mitbestimmen dürfen – das ist für mich Integration.“

Dass bei 6000 Flüchtlingen im Landkreis immer mehr Menschen zu ihr in den Turm kommen, betrachtet sie in der Manier der Bundeskanzlerin: „Deutschland schafft das, also schaffen wir das auch!“ Sie habe die Kinderbetreuung und andere laufende Projekte aus dem Turm in andere Stadtteile verlagern müssen. Ihr Büro aber soll im Herzen Esslingens bleiben. „So viel Symbolkraft hat keine andere Adresse.“