Angela Merkel kämpft im Fernsehen für eine diplomatische Flüchtlingspolitik. StZ-Korrespondent Armin Käfer analysiert die Kernsätze der Kanzlerin aus der einstündigen Talkshow.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Freddy Schenk und Max Ballauf scheinen der TV-Nation mehr am Herzen zu liegen als Angela Merkel und die Flüchtlingskrise. Gut zehn Millionen Zuschauer wollten am Sonntagabend den „Tatort“ sehen. Sechs Millionen interessierten sich dafür, wie die Kanzlerin die schwierigste Herausforderung ihrer Amtszeit bewältigen möchte – ein Problem, das die politische Landschaft erschüttert und die Europäische Union sprengen könnte. Nicht dass Merkel in dem einstündigen Zwiegespräch mit der Moderatorin Anne Will irgendetwas Neues erzählt hätte. Sie bleibt bei ihrem Kurs und erweckt nicht im Geringsten den Eindruck, als würden der Streit in der Koalition, massive Kritik und abstürzende Umfragewerte sie irritieren. Wir analysieren Merkels Kernsätze.

 

Plan B? „Ich habe ihn nicht, ich arbeite an einem anderen.“

Die Kanzlerin setzt auf eine diplomatische Strategie: sie will die Fluchtursachen vor Ort einhegen, sich mit der Türkei auf eine Art Pförtnerrolle vor den Toren Europas verständigen, vorrangig die EU-Außengrenzen schützen und die europäischen Staaten auf ein Minimum an Solidarität verpflichten – sprich: auf die Übernahme bestimmter Kontingente von Flüchtlingen. Mit nationalen Maßnahmen allein sei die Flüchtlingskrise nicht zu bewältigen. Merkel ist bei ihren diplomatischen Bemühungen bisher aber nicht weit vorangekommen. Einige drohen zu scheitern, andere werden allenfalls mittelfristig zu realisieren sein. Trotzdem sei jetzt „überhaupt nicht die Zeit, über andere Lösungen nachzudenken“, versichert sie. Merkel will unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, dass sie für den Fall, dass auf europäischer Ebene keine Fortschritte zu erzielen sind, erwägt, auch die deutschen Grenzen abzuriegeln. In CDU-Kreisen wird das als Denkvariante diskutiert, um verunsicherte Anhänger rechtzeitig vor den Landtagswahlen am 13. März zu mobilisieren. Diesem Zweck dient ein gemeinsamer Vorstoß der rheinland-pfälzischen Spitzenkandidatin Julia Klöckner und Guido Wolf aus Baden-Württemberg. Im Bereich des Grenzreglements hätte die Bundesregierung durchaus rechtliche und polizeiliche Spielräume, den Zustrom an Flüchtlingen stärker zu drosseln – ohne dass man dies gleich „Plan B“ nennen müsste. Darüber zu reden wäre vor dem Sondergipfel der EU mit der Türkei aber taktisch unklug.

„Ich bin nicht in der Rolle eines Bittstellers.“

Merkels Gastgeberin hatte nach den Druckmitteln der Kanzlerin im europaweiten Poker um mehr Solidarität bei der Suche nach Asylländern für die vielen Flüchtlinge gefragt. Daran gebricht es der Kanzlerin tatsächlich. Auch in den Verhandlungen mit der Türkei ist Merkel einerseits der Kooperationsbereitschaft des Erdogan-Regimes ausgeliefert, andererseits dringend darauf angewiesen, dass sich eine „Koalition der Willigen“ findet, die Ankara Flüchtlinge abnimmt. In all diesen Fragen offenbart sich die tatsächliche Schwäche der vermeintlich stärksten Frau Europas. Doch Merkel gab sich bei Anne Will große Mühe, die Verhältnisse schönzureden. In fast allen Fragen seien die 28 EU-Länder einer Meinung, behauptete sie. Den Beweis wird sie bald liefern müssen.

„Wenn der eine Grenzen definiert, muss der andere leiden.“

Das lässt sich gerade an der Südgrenze Mazedoniens und in Griechenland besichtigen. Die mazedonische Polizei setzte am Montag Tränengas ein, um Flüchtlinge abzuwehren. Griechenland ist hoffnungslos überfordert mit Zigtausend Asylbewerbern, die dort gestrandet sind, weil sie auf der Balkanroute nicht mehr weiterkommen. Das Zitat ließe sich auch mit dem Vorgehen der Türken gegen Flüchtlinge aus Syrien an der Grenze zu dem Bürgerkriegsland illustrieren. Merkels Satz trifft den Kern ihrer humanitären Flüchtlingspolitik. Abschottung, so ihr Kredo, ist nur zum Preis neuen Elends und katastrophaler Bilder zu erreichen. Das mag für Ungarn unter Victor Orban kein Problem sein – ein deutscher Politiker müsste sich für die allabendlich in den Fernsehnachrichten zu besichtigende Unmenschlichkeit rechtfertigen. Deutschland müsse „eine Lösung im Sinne aller“ anstreben, sagt die Kanzlerin. Es sei auch nicht sinnvoll, Griechenland erst mit immensem Aufwand aus seiner Schuldenkrise zu retten, es aber dann mit dem Flüchtlingselend alleinezulassen.

„Die SPD und Herr Gabriel machen sich damit klein.“

Merkel spielt darauf an, dass die große Koalition auf Drängen der SPD in den vergangenen Jahren milliardenschwere Beschlüsse zu Gunsten von Rentnern, Arbeitnehmern und sozial Bedürftigen gefasst hat. Wer den Eindruck erwecke, es gebe einen Nachholbedarf für soziale Wohltaten, weil der Staat nun auch viel Geld für Flüchtlinge ausgebe, der missachte die eigenen Erfolge. Darin hat die SPD seit der Agenda 2010 eine gewisse Routine. Gabriel schürt das Vorurteil, es gebe eine soziale Schieflage – „was einfach nicht stimmt“, betont Merkel. Ein Sprecher des Finanzministers formuliert es am Montag etwas technischer als die Kanzlerin und weniger polemisch als sein Chef Wolfgang Schäuble, der Gabriels Vorstoß „erbarmungswürdig“ genannt hatte: Dank der üppigen Überschüsse in der Staatskasse gebe es die Möglichkeit, Milliarden für Flüchtlinge aufzubringen, „ohne anderswo Abstriche machen zu müssen“.

„Ich bin gegen eine starre Obergrenze.“

Merkel setzt sich von der bayerischen Schwesterpartei CSU ab, die per Beschluss regeln will, dass Deutschland im laufenden Jahr nicht mehr als 200 000 Flüchtlinge aufnimmt. Wie viele Menschen in der Bundesrepublik tatsächlich ankommen und um Asyl ersuchen werden, lässt sich aber nicht einfach herbeidekretieren. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hat auch keine Antwort auf die Frage, was zu tun wäre, wenn der 200 001. Flüchtling eines Tages an der Grenze Einlass begehrt. Sie wolle niemandem „ein X für ein U vormachen“, sagt Merkel. Die Zahl der Asylbewerber „hängt nicht nur von uns ab“, betont sie. Man könne das „nicht auf die Nummer genau sagen“. Zudem wolle sie „nichts versprechen, was drei Wochen hält und danach nicht mehr“. Dafür gab es in der Talkshow am Sonntag Szenenapplaus vom Publikum. Die Anmerkung, dass sie gegen „starre“ Obergrenzen sei, lässt der Kanzlerin aber durchaus Hintertüren offen: etwa die Möglichkeit, nach dem Muster Österreichs entsprechend der jeweiligen Aufnahmekapazitäten wechselnde Tageskontingente festzulegen.

„Ich habe gewusst, dass es das schwierigste Problem ist.“

Diese Behauptung klingt ein bisschen vollmundig. Im Sommer 2015 hatte Merkel einige Wochen gebraucht, die Dramatik der Flüchtlingskrise zu erfassen. In den Jahren zuvor hatte sie die Probleme der Staaten im Süden Europas mit Flüchtlingen weitgehend ausgeblendet. Längst ist klar: diese Herausforderung könnte die EU sprengen, Merkels Koalition zerlegen, die Union entzweien – und damit ihre Kanzlerschaft gefährden. Aber die CDU-Frau richtet sich keineswegs auf einen vorschnellen Abgang ein. Auf die Frage nach dem schwierigsten Problem ihrer Kanzlerschaft antwortete sie Anne Will: „Man weiß ja nie, was noch kommt.“ Sie sei schließlich „Bundeskanzlerin dafür, dass ich das, was auf unser Land zukommt, löse“. Das klingt nicht danach, als wolle sie vor Seehofer kapitulieren – oder vor der Flüchtlingskrise.