In der Zuffenhausener Keltersiedlung sollen alte Wohnhäuser abgerissen und durch größere Neubauten ersetzt werden. Die Mieter, die dort teilweise seit Jahrzehnten leben, befürchten, dass man ihnen ihre Heimat nimmt.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Ein Gewitter steht am Himmel. Die Wolken werden minütlich dunkler. Aber die Männer, die da im Garten unter einem Sonnenschirm sitzen, wollen nicht weichen. Sie schauen ernst und erzählen weiter. „Das raubt mir den Schlaf“, sagt Horst Hölz, 73, und zieht sich eine Zigarette nach der anderen rein. Im Oktober wird er seit 20 Jahren hier leben. „Natürlich geht einem das nach“, sagt auch Udo Metzinger, 53. Er wohnt im selben Haus wie Hölz – seit 50 Jahren. Längst sollte er seiner an Alzheimer erkrankten Mutter das Abendessen aufwärmen. Doch das Gespräch der beiden Männer kreist immer wieder um die gleiche Sache: den drohenden Verlust ihrer Heimat. Das kann einen schon aus dem Tritt bringen.

 
Horst Hölz Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Denn nicht das, was sich am Himmel zusammenbraut, versetzt die beiden in Unruhe und Rage. Die Pläne der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) für die Keltersiedlung in Stuttgart-Zuffenhausen, vom Verkehr durch viel Grün abgeschirmt und doch zentral an der Stadtbahnhaltestelle Hohensteinstraße gelegen, sind es. Das Lachen ist den beiden spätestens seit März vergangen. Da zogen die ersten dunklen Wolken auf. Da haben Hölz und Metzinger wie alle anderen Mieter der Keltersiedlung per Post von der SWSG eine Einladung zu einer Informationsveranstaltung bekommen.

Die Mieter, das sind Rentner, die nie dran gedacht hätten, jetzt noch einmal umziehen zu müssen. Darunter viele Einwanderer der ersten Generation, die den Absprung in ihr Geburtsland nach einem Leben voller Arbeit verpasst haben. Die Mieter, das sind Blumenhändler, Schreiner, Steinmetz, Kassiererin, Schrotthändler, oder sie haben bei Bosch geschafft. Die meisten haben Arbeit, ein paar wenige sind Überlebenskünstler, die sich irgendwie durchwursteln. Die Mieter, das sind Deutsche, Griechen, Italiener, Russen, Türken oder Albaner. Die Sprache, mit der sie sich untereinander verständigen, ist Schwäbisch. Ein Biotop nachbarschaftlicher Verbundenheit, das funktioniert – ein kleines Paradies.

Aus 5000 Quadratmeter sollen 12 500 werden

Aber seit der SWSG-Informationsveranstaltung vor zwei Wochen wissen sie alle ganz genau: Sie sind im Weg, sie sollen hier weg. Zu sperrig ist ihre Siedlung, die Häuser mit zweieinhalb Stockwerken zu niedrig, der Himmel zu weit, die Grünflächen und Rückzugsräume in den eigenen Gärtchen zu üppig. Das weckt Begehrlichkeiten in Zeiten knapper Wohnungen und hoher Bodenpreise – und riecht nach Gentrifizierung eines Viertels, das nicht immer den besten Ruf hatte, heute aber „für ein Leben in Würde für Menschen mit kleinem Geldbeutel“ steht, wie eine der Bewohnerinnen sagt.

Die SWSG will die Häuser, in denen Hölz und Metzinger und all die anderen seit Jahrzehnten wohnen, abreißen und durch neue ersetzen. Dort, wo jetzt 105 alte Wohnungen sind, sollen 186 neue entstehen. Aus 5000 sollen 12 500 Quadratmeter Wohnfläche werden. Das Quartier zwischen Langenburger, Künzelsauer und Schöntaler Straße habe „hohes Verdichtungspotenzial“ heißt das in der Sprache der Wohnungsbauer.

Der Technische Ausschuss der Landeshauptstadt Stuttgart muss dafür den Bebauungsplan ändern. Das Häuserensemble stehe nicht unter Denkmalschutz, erklärt das zuständige Regierungspräsidium. Aber das liege daran, dass noch niemand den Antrag auf Prüfung gestellt habe.

Was nicht ist, kann ja noch kommen, denn das Arme-Leute-Viertel, das die Nationalsozialisten 1936/37 planten und in zwei Abschnitten – 1937/38 und gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs – errichtet wurde, steht für eine Epoche deutscher Baugeschichte. Nun soll die Siedlung, wie es in einem internen Schreiben der SWSG heißt, „Maßnahmen zur Verbesserung der Mieterstruktur“ erfahren. Peter Schwab, der Pressesprecher der SWSG weist diese Absicht zurück. Man biete den Mietern ein exklusives Rückzugsrecht.

Der Widerstand wächst

Doch die Planer haben die Rechnung ohne die derzeitigen Mieter gemacht. Seit ein paar Tagen machen sie mobil. Sie wollen nicht widerstandlos mit ansehen, wie man ihnen ihre Heimat nimmt. Lange waren die Bewohner ruhig, haben Mieterhöhungen stillschweigend akzeptiert, um keinen Ärger zu bekommen. „Alte Leute, Migranten und sozial Schwache“, sagt Horst Hölz, „ziehen eher den Kopf ein.“ Vielleicht haben sie deshalb erduldet, dass ihre Bitten um Renovierungen meist ins Leere liefen – und darauf vertraut, dass ihre Häuser auch irgendwann an der Reihe wären, nachdem in Wohngebäuden in der Ingelfinger Straße Türen und Fenster ausgetauscht wurden. „Ich halte die Häuser nicht für abrisswürdig, sondern für sanierungswürdig“, sagt Thomas Adler, der für die Fraktionsgemeinschaft der SÖS-Linke-Plus im Aufsichtsrat der SWSG sitzt und vor Ort war.

Für viele Bewohner der Keltersiedlung ist jetzt Schluss mit Schweigen. In ihre Fenster haben sie gelbe und rote Zettel gehängt, auf denen steht: „Kein Abriss unserer Häuser.“ Oder: „Friede den Hütten. Kampf den Palästen. Wir bleiben hier.“

Ein mazedonischer Freund von Hölz, der lieber zuhört als redet und zeitlebens ein stiller Schaffer war, läuft herum und verteilt die Zettel oder klebt sie an Haustüren. „Wohnen ist ein Menschenrecht“ steht auf einem. Dass irgendjemand sie in der Nacht von Sonntag auf Montag abgerissen hat, facht die Wut der Menschen weiter an, die sich nicht ernst genommen fühlen. Manche wachsen dabei über sich hinaus.

Alte Bäume verpflanzt man nicht

Gerda Merker Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Gerda Merker , 64, etwa sammelt Unterschriften gegen den Abriss. Sie tut so etwas zum ersten Mal in ihrem Leben, weil auch sie und ihr Mann nicht wegwollen aus ihrer Wohnung. Über 200 hat sie schon beisammen – und hofft auf mehr. Sie sitzt in ihrem Gärtchen. In dem akkurat gehackten Blumenbeet hat ihr Mann nach den Eisheiligen die Tomatenpflanzen ins Freie gesetzt. Gerda Merker kocht Kaffee und fragt: „Wo gibt es denn noch billige Wohnungen, wenn alle von hier wegsollen?“

Die angebotene Wohnung in Stuttgart-Rot oder im Neubaugebiet Roter Stich sind teurer oder kleiner, der Balkon ersetzt den Garten nicht. Dass die alten Wohnungen balkonlos seien, bezeichnet die SWSG als Manko, dass die neuen und teureren Wohnungen keine Gärten mehr haben, taucht nicht in der Beschreibung auf.

Ein paar Ecken weiter sitzen die Reinhardts um einen großen Tisch auf ihrer Terrasse. Der Rasen ist auf Ideallänge gestutzt, die Rosen sind kurz vor dem Blühen. Ein Quittenbaum trägt letzte Blüten. Sonntags kommt die Familie zusammen. Sohn Mark wohnt gleich nebenan Wand an Wand mit den Eltern. Tochter Gitta lebt außerhalb der Siedlung, aber nur so weit weg, dass sie täglich bei den Eltern vorbeischauen kann. Man hält zusammen.

Familienoberhaupt Markus Reinhardt ist 1946 als Säugling in das Haus eingezogen, in dem er jetzt wohnt. Es geht ihm nicht gut, er mag nicht viel reden. Nur so viel sagt er: dass er nicht mehr umziehen will auf seine alten Tage. Die Nachricht, dass er nach 70 Jahren von hier fort soll, hat seinen angeschlagenen Gesundheitszustand nicht unbedingt verbessert.

Die Bewohner fragen sich: Wofür das alles?

Markus Reinhardt ist so etwas wie der Ureinwohner des Viertels. Seine Eltern haben als Sinti während der Zeit des Nationalsozialismus im Arbeitslager Dienst tun müssen und mit der ständigen Angst vor der Deportation ins Konzentrationslager gelebt. Die Wohnung in der Keltersiedlung stand für den Neuanfang. Heimat und Schutz in den eigenen vier Wänden zu finden, hat für die Reinhardts eine ganz spezielle Bedeutung. „Familie und die Nähe zu den Eltern sind uns wichtig“, sagt Tochter Gitta. Den Nussbaum im Garten hatte ihre Mutter im Jahr 1983 gepflanzt. Er ist jetzt fast so hoch wie das Haus. Letztes Jahr haben sie einen weiteren gepflanzt. Ob er die Chance bekommt, auch so groß zu werden, weiß derzeit keiner.

„Die Wohnungen sind stark sanierungsbedürftig“ heißt es in der Begründung für die Abriss- und Neubaupläne. Würde man es zynisch formulieren, könnte man auch sagen: Die SWSG hat den Zustand, der den Mietern jetzt zum Verhängnis werden soll, selbst herbeigeführt.

Elke Reinhardts Schwiegertocher Maria, 37, zeigt gerne, wie eine „stark sanierungsbedürftige Wohnung“ aussieht: Zwar zieht es durch die Fenster wie Hechtsuppe – sie stammen aus dem Jahr 1983 – aber die Böden sind neu gefliest, das Bad ist neu gekachelt und hat Hotel-Sterne-Standard. Die Wände in der gesamten Wohnung blitzen weiß. „Wir streichen jedes Jahr einmal“, sagt Sohn Mark. Wofür das alles?, fragt sich nicht nur er.

Und warum werden die Häuser in der Ingelfinger Straße saniert und die in der Stuppacher, Künzelsauer und Langenburger Straße nicht?

Aufgeben ist keine Option

Elke Reinhardt fragt sich, ob es ein böses Omen ist, dass Karl, der Rabe, schon seltener in ihrem Garten Station macht. Sie will den Gedanken nicht zu Ende denken und schiebt eine rationale Erklärung nach. „Ich füttere ihn auch weniger“, sagt sie leise, wie um sich selbst zu beruhigen. Aber so ganz traut sie ihren eigenen Worten nicht. Karl, so sagt sie, möge Saitenwürstchen ausgesprochen gerne. Dieses Lockmittel habe bisher eigentlich immer gezogen.

Horst Hölz und Udo Metzinger sitzen immer noch in ihrem Garten. Es ist spät geworden. Die Tomaten hat Hölz nun gegen den Regen mit grüner Folie geschützt. Die Erdbeeren tragen dieses Jahr satt. Noch schimmern die Früchte weiß-grün, aber das wird. Die Schnecken haben bisher einen Bogen um die Beete gemacht.

Morgen wird Hölz wieder mit seinem mazedonischen Freund spazieren gehen. Hölz, der Leser und Hobbyphilosoph, der gerne Schiller zitiert, in seinem Leben gezockt und gesoffen hat und nach einer Firmeninsolvenz im Kelterviertel gelandet ist, und sein stiller Zuhörer Metzinger werden über Gott und die Welt räsonieren. Derweil wird Gerda Merker weiter Unterschriften sammeln. Aufgeben wollen sie alle nicht.