Eine Menschenkette sollte 1983 die Stationierung der Pershing-Raketen verhindern. Dreißig Jahre danach darf man einen neuen Blick auf die Friedensbewegung wagen. Der Initiator der Menschenkette, Ulli Thiel, glaubt an ihren verspäteten Sieg.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm - Dieser große Demonstrationsherbst 1983 mit seiner Menschenkette, als Baden-Württemberg „Raketenländle“ wurde, ist auch eine Blütezeit des pfeilscharfen Kurzreims gewesen. Einer der Urheber hieß Ulli Thiel, er erschuf den Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“. Ein anderer Verseschmied war angeblich Helmut Kohl: „Die demonstrieren, wir regieren“, soll der Kanzler gesagt, nein, gehöhnt haben. Andere Quellen nennen als Zitatgeber einen Referenten des damaligen Bundesinnenministers. Wer sich „Petting statt Pershing“ ausgedacht hat, weiß man gar nicht, verbürgt ist aber die Urheberschaft eines weiteren gereimten Versprechens, das sich an die Volksmassen richtete: „Jede Wette, wir schaffen die Kette.“ Sonnhild Thiel war’s.

 

Um die Masse war es in allem gegangen in diesem Herbst vor 30 Jahren, um ihre Lenkbarkeit, ihre Ohnmacht, ihre Kraft im Fall des organisierten protesthaften Zusammenschlusses, ihre Angst vorm Sterben. Der Warschauer Pakt hatte hinter dem Eisernen Vorhang nach und nach die zielgenaueren SS-20-Raketen in Stellung gebracht, die Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses und damit die Stationierung von Pershing-II-Waffensystemen auf deutschem Boden stand bevor.

Ein Mann, ein Meter, so war der Plan

Ulli und Sonnhild Thiel brauchen auch nach 30 Jahren keine Auffrischung der Erinnerung an die damalige politische Großwetterlage, aber diesen Bahnhof in Reichenbach an der Fils, in dem sie am 22. Oktober 1983 aus einem Sonderzug gestiegen waren, erkennen sie kaum wieder. Obwohl doch Reichenbach ihr ganz persönlicher Ort des Triumphs wurde. „Wie wir uns alle an den Händen gefasst und gedrückt haben, das war so ein tolles Gefühl“, erinnert sich Sonnhild Thiel. Sie und ihr Mann leiteten damals den Landesverband der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK).Das frühere Bahnhofsgebäude ist heute das Rock-Café. Ein paar Häuserzeilen von den Gleisen entfernt liegt die Hauptstraße, in die damals die protestierenden Massen aus den Zügen geflutet sind, um Teil dieser 108 Kilometer langen Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm zu werden. Ein Mann, ein Meter, so lautete die Faustformel. 100 000 Demoteilnehmer hätten folglich ausgereicht. Etwaige Lücken sollten mit Kettenbändern aus Stoff geschlossen werden. Aber dann waren, was niemand zu hoffen gewagt hatte, 300 000 bis 400 000 Menschen gekommen.

In Neu-Ulm saß eine US-amerikanische Einheit hinter den Eisenzäunen der Wiley Barracks, eine weitere etwas nördlich auf der Mutlanger Heide. Die Menschenkette wollte Ulli Thiel damals aber aus logistischen Gründen nicht über Mutlangen führen. Der Kriegsdienstgegner aus Karlsruhe hatte sich mit seiner Idee bei einer vorbereitenden Aktionskonferenz in Neu-Ulm im Juni 1983 durchgesetzt. Er war Moderator von tausend Teilnehmern mit tausend Meinungen gewesen. Die Konservativen in der Bewegung, zum Beispiel aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund, wollten eine einzige zentrale Großkundgebung in Stuttgart, die Radikaleren warben für Blockadeaktionen vor den US-Kasernen. Lasst uns einfach alles machen, warb Thiel. In der Ortsmitte von Reichenbach, ein paar Häuserzeilen vom Bahnhof entfernt, gucken sich Ulli und Sonnhild Thiel fragend an. Gab es dieses Rathaus damals schon? Sie waren 1983 voller Anspannung aus dem Zug gestiegen, die Möglichkeit des Scheiterns im Hinterkopf, ohne Feiergefühl und ohne Auge für die Eigenheiten dieses Ortes, an den sie ganz zufällig gekommen waren, einfach weil die vielen Demonstranten irgendwie auf die Strecke verteilt werden mussten. Vor dem Ausschwärmen bekam jeder einen Luftballon. Die Farbe Orange hieß, nach Osten zu gehen, Blau wies nach Westen. Mit einem triumphierenden Lächeln erinnert sich Ulli Thiel an die Warnungen von damals, hoch oben auf der Schwäbischen Alb könnten sich die Protestierenden verlieren und, in deprimierten, verlorenen Menscheninseln versammelt, am Hinterteil frieren. Sonnhild Thiel, die am Einteilungsplan mitgewirkt hatte, ordnete ohne Rücksicht auf mögliche Kulturschocks eine Demogruppe von 25 000 Hessen in die Dörfer Urspring und Lonsee ab. Hessen, das setzten viele besorgte Bürger von damals mit der Frankfurter Startbahn West gleich, was wiederum Krawalle verhieß.

Kein bissle Dreck auf der Alb

Noch im Juli 1983 hatte der frisch ins Amt gekommene Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heribert Hellenbroich, vor den bevorstehenden Friedensaktionen gewarnt, vor Gruppen speziell, die nach eigenem Bekenntnis das „ganze Schweinesystem zerschlagen“ wollten und bereits bei Aktionskonferenzen der Friedensbewegung gesichtet worden seien. „Als die Hessen dann auf die Alb kamen, waren die Fensterläden zu und die Rollläden runter“, erinnert sich Thiel. Erfreut registrierten Urspringer und Lonseer nach der Demonstration, dass nichts passiert war und, noch besser, man den Fremden nicht hinterherputzen musste.

An Ausrüstung aus den Achtzigern hat Ulli Thiel eine Jutetasche, einen Friedensbutton und verschiedene Autoaufkleber in die Jetztzeit hinübergerettet. „Das ist mein Alleinstellungsmerkmal“, sagt er freudig und schwenkt die ausgebeulte Tasche, ohne zu verraten, was sie birgt. Und auch seinen Humor hat der ehemalige Sonderschullehrer für hör- und sprachbehinderte Kinder behalten, ein Geschenk, das ihn 1983 zum Anführer prädestiniert haben dürfte, auch wenn er so ein Wort nie für sich gebrauchen würde. Das mischte sich mit Gelassenheit und seinem sturköpfigen Beharren auf dem Ausgleich der Interessen. So kam es, dass die Kirchengruppen und die Grünen, die DKP und die Gewerkschafter, die Gemäßigten und die Radikalen sich nicht an die Gurgel gingen, obwohl es manchmal schien, als seien sie kurz davor.Ein „Bedrohungsgefühl“, daran erinnert der inzwischen 69-jährige Karlsruher, habe die Demoteilnehmer letztlich zueinandergebracht. Nicht die Hoffnung auf ein Event oder die Vorfreude, an der ersten großen Menschenkette der deutschen Protestgeschichte teilzunehmen. Es waren ja nicht nur die Atomraketen, die viele Deutsche hatten gebeugter gehen lassen. Der Terror der RAF war unbesiegt, die zweite Ölkrise lag kein Jahr zurück, der saure Regen ätzte die Wälder weg. Dann kamen die Modemacher und gaben den Verzweifelten mit Schulterpolstern und Puffärmeln den Rest.

Durch viele Köpfe kroch die Angst

Vorbei, vergessen, auch die Dauerüberwachung der Thiels durch den Verfassungsschutz, das Ermittlungsverfahren wegen Anstiftung zu einer Straftat und die polizeiliche Hausdurchsuchung, bei der nach Plakaten gefahndet wurde, die zur Wehrdienstverweigerung aufrufen. Das Verfahren musste eingestellt werden. Ulli Thiel behielt mit Mühe seine Lehrerstelle in Karlsruhe. Wie das Ehepaar, das damals drei Kinder zu versorgen hatte, das aushielt, weiß Sonnhild Thiel kaum mehr. „Ich bin vielleicht naiv – und habe ein gutes Gewissen“, sagt sie bei einer Tasse Tee im Rock-Café. Vielleicht war es gut, dass die Eheleute damals nichts von den Aufzeichnungen der Staatssicherheit der DDR wussten. Später haben sie bei der Gauck-Behörde ihre Akte einsehen können und lasen freudig klingende Spitzelnotizen, wonach die Thiels an der Zersetzung der Bundesrepublik arbeiteten.

Nie wird das Paar aber den Jubel vergessen, als die Radiosender am 22. Oktober in den 13-Uhr-Nachrichten vermeldeten, die Menschenkette sei geschlossen worden. Schon zuvor hatten es die Telefonboten entlang der Demonstrationsstrecke durchtelefoniert. Vorsorglich hatte das Aktionsbüro der Friedensfreunde sämtliche Telefonzellen entlang der Proteststrecke belegen lassen. Motorradfahrer machten überall Meldung von der Strecke.

Am Abend dann knallten die Luftaufnahmen förmlich in die deutschen Wohnstuben. Anstatt Zusammenrottungen des „linken Krawallpöbels“, wie rechte Gruppierungen vorher gewarnt hatten, zeigten die Bilder fröhliche, tanzende, ineinander verschränkte Menschen. Aus den Hubschraubern der Fernsehsender sah die mäandernde Kette tief unten teilweise aus wie eine riesige Schlange, die zur Musik der Neuen Deutschen Welle zuckt.

Die Gewaltlosigkeit und Diszipliniertheit dieser Menschenkette, die aus den Teilnehmern selbst kam, ohne Befehl von irgendwoher, davon ist immer wieder geschwärmt worden. Die Mechanik dieser riesigen Versammlung führte zu wahren Berauschungen: wie es gelungen war, durch Doppelketten an Kreuzungen Autos durchzulassen, ohne eine Lücke zu reißen, oder wie es geschafft wurde, dass der VfB Stuttgart sein Heimspiel gegen den FC Bayern München vorverlegte. Über die Wirkung der Menschenkette auf die Politik hingegen wurde später nicht so viel geredet. Die Pershing-Raketen wurden stationiert, das Demonstrationsziel war verfehlt. Euphorie wich tiefer Enttäuschung. „Die Friedensbewegung war dann schnell am Abbröckeln“, erinnert sich Ulli Thiel. Es hat bis zum Zerfall des Sowjetreichs und dem Abzug der Atomraketen gedauert, bis sich unter den verbliebenen Friedensaktivisten die Überzeugung herausbildete, dass ihre Aktionen eben doch Wirkung auf die politischen Machtzentren hatten. Die Mutlanger Heide ist heute ein Solarfeld, aus der Neu-Ulmer Kaserne wurde ein begehrtes Wohngebiet.

Der Euphorie folgte die Depression

Verrückt, wie die Zeit die Furcht zermahlte und umkehrte, was man über Menschen zu wissen glaubte. Dreißig Jahre machten aus der vermeintlichen Obstruktion des Ulli Thiel ein stilles Heldentum, aus Akteneinträgen der Geheimdienste Lehrstoff für Schulbücher. So richtig Lust auf ein biografisches Resümee hat der 69-Jährige aber nicht. Er und Sonnhild haben gerade wieder zu tun mit der Organisation von Friedensveranstaltungen. In der Jutetasche, jetzt kommt es raus, stecken frisch gedruckte Faltblätter. Die Aktivisten überreichen sie mit festem Blick. Dann steigen sie in ihren roten Golf und fahren davon. Von der Heckscheibe grüßt noch einmal eine Friedenstaube die Stadt Reichenbach.