Die neue Prognose des Innenministers umreißt die Dimension der Herausforderung. Jetzt stellen sich drängende Fragen: Wer zahlt für Unterkünfte? Wann findet Europa zu einer gerechten Verteilung? Warum gibt es nicht mehr Abschiebungen?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Die Rekordzahl an Flüchtlingen lässt sich zerteilen in viele kleinere, die widerspiegeln, vor welchen Herausforderungen der Staat steht. Welche Schlussfolgerungen nun zu ziehen sind, hat Innenminister de Maizière am Mittwoch mit den Staatskanzleichefs aus den Ländern erörtert. Demnächst lädt die Kanzlerin zum Flüchtlingsgipfel nach Berlin. Da wird nicht nur über Geld zu streiten sein. Die Problematik hat vielen Facetten:

 

39,5 Prozent der Flüchtlinge, die im Juli bei uns einen Asylantrag gestellt haben, kommen vom Balkan. Sie haben kaum eine Perspektive, hier bleiben zu dürfen. Asylbewerber aus dieser Region werden nur in seltenen Einzelfällen anerkannt, da dort nach Ansicht vieler Experten und der meisten Richter keine politische Verfolgung herrscht. In den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres kamen 44 417 Flüchtlinge aus Syrien, 11 578 aus dem Irak und 10 479 aus Afghanistan. Sie werden fast ausnahmslos bleiben können, auch wenn nicht alle Asylanträge bewilligt werden. Dazu kamen 32 935 Kosovaren, 29 857 Albaner, 18 287 Serben und weitere 13 000 Menschen aus Mazedonien und Bosnien-Herzegowina: Deren Anträge müssen ebenfalls bearbeitet und geprüft werden – auch wenn sie fast ausnahmslos keine Aussicht auf Erfolg haben.

Nur Bayern trennt die Balkan-Verfahren konsequent ab

39 Prozent der Asylbewerber, über deren Anträge im Juli 2015 entschieden wurde, dürfen in Deutschland bleiben. Diese so genannte Schutzquote ist ziemlich konstant. Das bedeutet im Gegenzug aber auch: fast zwei Drittel der Asylbewerber wären nach Abschluss ihres Verfahrens eigentlich verpflichtet, die Heimreise anzutreten. Doch nur eine Minderheit verlässt Deutschland auch tatsächlich wieder.

5,4 Monate dauert ein Asylverfahren im Durchschnitt. Anfang 2015 lag die Verfahrensdauer noch bei deutlich über einem halben Jahr. Angestrebt wird eine Frist von drei Monaten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge braucht dringend mehr Personal. Vor einem Jahr waren gut 2000 Mitarbeiter dort beschäftigt. Ende 2014 wurden 650 neue Leute eingestellt. Für das laufende und das kommende Jahr sind noch einmal jeweils 1000 zusätzliche Stellen bewilligt. Die Ministerpräsidenten der Länder haben sich darauf verständigt, die Verfahren offenkundig aussichtsloser Asylbewerbern vom Balkan separat zu bearbeiten. Das wird bisher aber nur in Bayern auch konsequent so betrieben.

Nicht alle Länder schieben auch ab

8178 abgelehnte Asylbewerber wurden im ersten Halbjahr 2015 aus Deutschland in ihre jeweiligen Herkunftsländer abgeschoben. Die Zahl steigt – aber längst nicht in allen Bundesländern. So hat zum Beispiel das von Linken, Grünen und der SPD regierte Thüringen die Abschiebungen weitgehend eingestellt. Längst nicht alle Flüchtlinge, die ausgewiesen werden, kehren freiwillig in ihre Heimat zurück. In Baden-Württemberg wurden 2015 bisher 1241 Ausländer abgeschoben. Dennoch halten sich zehnmal so viele, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet wären, noch im Land auf.

40 Prozent der Flüchtlinge, die im ersten Quartal 2015 nach Europa kamen, haben ihren Asylantrag in Deutschland gestellt, insgesamt 73 000. In Frankreich und Italien waren es nur jeweils 15 000, in Großbritannien noch weitaus weniger. Umgerechnet auf die jeweilige Bevölkerung sieht die Rechnung etwas anders aus. Da scheint Ungarn das humanste Land zu sein. Dort wurden 3322 Asylanträge pro eine Million Einwohner gestellt (in Deutschland 905, in Schweden und Österreich jeweils mehr als 1100). Die meisten dieser Asylbewerber bleiben aber nicht in Ungarn. Sie reisen weiter nach Deutschland oder Schweden.

240 000 Flüchtlinge kamen allein übers Mittelmeer. Aber der Seeweg ist inzwischen nicht mehr das wichtigste Einfallstor nach Europa. Im Juli kamen sechsmal mehr über die so genannte Balkanroute als auf Booten: von Griechenland über Serbien, Ungarn, Österreich bis Passau.

1000 Euro kostet ein Flüchtling den deutschen Staat jeden Monat. Die Zahl nannte kürzlich der Berliner Senat. Laut Gesetz steht jedem Asylbewerber Sozialhilfe von 359 Euro monatlich zu. Dazu kommen Unterkunft, soziale Betreuung und Gesundheitsversorgung. Das meiste davon haben die Kommunen zu schultern. Baden-Württemberg weist seinen Städten und Gemeinden eine Jahrespauschale von 13 260 Euro je Flüchtling zu. Nordrhein-Westfalen zahlt nur 4144 Euro. Kommunen und Länder fordern mehr Hilfe vom Bund. Der hat für dieses und für das kommende Jahr schon jeweils eine Milliarde Euro mehr zugesagt. Das wird aber wohl nicht reichen. Diskutiert wird unter anderem auch über feste Pauschalen pro Kopf, die der Bund finanzieren soll. Diese Forderung hat am Mittwoch Brandenburgs Finanzminister Christian Görke (Linke) bekräftigt. Er verlangte pro Flüchtling vom Bund 1000 Euro im Monat. Berlins Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) hielte es für angemessen, wenn der Bund die Hälfte der Kosten trägt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich dafür aus, die Asylstandards europaweit anzugleichen. Kein anderes Land gewährt Flüchtlingen ein annähernd so hohes Taschengeld wie Deutschland.