Wer mag Kampfgänse, Dorkinghennen und Reichshühner? Die Nürtinger Geflügelzüchter. Robin Szuttor hat sie besucht: Porträt einer Gruppe, die einem unmodernen Hobby nachgeht.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Nürtingen - Als im Eiswinter 1945 Hunderttausende Ostpreußen über das zugefrorene Haff entkommen wollen, naht für die Memeler Hochflieger das Ende. Die Züchter unter den Flüchtenden lassen ihre Rassetauben frei, schütten noch Getreide aus, damit die Tiere wenigstens eine Weile durchkommen. Nur einer, Richard Krosien, nimmt kein Silberbesteck oder andere Habseligkeiten mit. Er packt ein, woran sein Herz am meisten hängt. Sein einziges Fluchtgepäck sind 23 Memeler Hochflieger in Kartons mit Luftlöchern. 14 werden unterwegs durch umfallende Munitionskisten getötet und zwei von Ratten aufgefressen. Sieben kommen in Bremervörde an. Aus der Papp-Arche-Noah erwächst ein neuer Stamm. Ein neuer Morgen bricht heran. Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.

 

„Ich habe Ehrfurcht vor so einer Tradition“, sagt Joachim Mojzis. Ein halbes Dutzend seiner Memeler Hochflieger sitzen auf dem Dach des Gartenhäuschens wie Rentner vor einer Baustelle: Man hat nichts Großes vor, nur ein bisschen gucken und sich von der Abendsonne bescheinen lassen. Und bald ist eh Schlafenszeit. Der Taubenschlag steht am Westrand von Nürtingen in der Nachbarschaft von Kleingärten mit messerscharf umrandeten Beeten. Bei den Geflügelfreunden ist es ungeordneter. Brennnesseln wuchern wie im Dschungel, sonst gibt es kaum Pflanzen. Tausend ungeklaubte Äpfel liegen auf dem blanken Erdboden, der übersät ist mit weißgelbgrünbraunen wässrigen Häufchen. Hier geht es nicht um botanische Zier, hier dreht sich alles um Memeler Tauben, Steinbacher Kampfgänse, Appenzeller Barthühner, Deutsche Zwerg-Reichshühner, Italiener und anderes Federvieh.

Die Geschichte der Geflügelzucht ist noch jung. Zwar hatten die Leute schon immer Hühner ums Haus, aber bis in das 19. Jahrhundert waren das mehr oder weniger wilde Vögel mit erbärmlichem Ertrag. Der Adel war es, der anfing zu züchten. Und bald merkte man, was da an Eier- und Fleischleistung möglich war. Ohne die massigen Dorkinghühner wäre die industrielle Revolution womöglich im Sande verlaufen. Ihr Fleisch hielt die hungrigen Fabrikarbeiter in London und Manchester bei Kräften.

Kein frisches Blut

In Deutschland wurden vor 125 Jahren die ersten reinen Geflügelzuchtvereine gegründet. Zu diesen Pionieren gehörten auch die Nürtinger. Die legitimen Nachfolger jener Urväter sind Hermann Haussmann, 77, und Rudi Wolfer, 74. Haussmann arbeitete früher in der Geflügelwirtschaft, verkaufte Küken und Junglegehennen an Großfarmen. Er kennt sich aus. Wolfer, ehemaliger Vereinskassierer und Zweiter Vorsitzender, ist auch ein Profi und Geflügelfreund aus Tradition. In seiner Familie war es immer eine Selbstverständlichkeit: für die Mädchen gibt es Bettzeug mit selbst gerupften Daunen zur Aussteuer.

Mojzis ist mit seinen 49 Jahren der Jüngste. Es kommt kein frisches Blut nach. Einige Enkel und Kinder von Vereinsmitgliedern machen zwar ein bisschen mit, aber spätestens in der Pubertät ist dann Schluss mit dem uncoolen Geflügel. Rudi Wolfer hat trotzdem Hoffnung. Vielleicht besinnt sich ja so mancher im gesetzteren Alter auf die Jugendzeit im Hühnerstall und startet noch mal durch im Verein. Er hört jetzt immer öfter von Familienvätern, dass sie das klasse finden mit den Hühnern und so. „Kauf doch a klois Stämmle“, sagt er dann, „aber mit Urlaub isch dann halt nix mee, gell. Du kannsch den Schdall ned oifach vierzehn Daag zumacha.“ Ein kleines Stämmle, das sind ein Hahn und vier bis fünf Hennen. Zehn wären noch besser. Das gibt eine bessere Befruchtung. Denn nicht jedes Paar ist mit Nachwuchs gesegnet, oft kommen am Ende nur „lautere Denger“, also unbefruchtete Eier, raus. Wenn überhaupt. Manche Hähne können nämlich absolut nicht mit gewissen Hennen. Und andersrum. Mehr Auswahl – bessere Küken. In der Geflügelfirma, in der Hausmann früher arbeitete, kamen auf 1000 Hähne 10 000 Hennen. „Des isch nadierlich ideal.“

Die Oberste in der Damenhackordnung ist auch meist die Favoritin des Hahns. Zweifellos die beste Partie im Stall. Aber das ist es nicht allein. Es braucht mehr. „Sympathie“ nennt es Mojzis. Und das Äußere ist halt auch wichtig. Bei einer feinknöchrigen Dorkinghenne mit großen faltenfreien Kehllappen, vollfleischigen Schenkeln, gestrecktem Rücken und hohem Brustbein wird ein Dorkinghahn schnell schwach. Kann sie dann auch noch ein stabiles Kammblatt vorweisen, ist tief im Stand und breit im Körper – „also a rechter Klomba“ – dann ist er endgültig hin und weg. Da tickt so ein Hahn nicht anders als die Preisrichter bei den Schauen. Freilich muss man beim Gockel auch Glück haben. „Es ist eine Freude, wenn man sieht, wie vital der Hahn ist. Dann befruchtet er auch besser“, sagt Mojzis. „Besser als oiner, der sich emmer frogt: Soll i, oder soll i nedd? Oder hab i scho?“, sagt Wolfer.

Gegagger, Gejammer, Gekrächze

Das hypnotische Gegagger, Gejammer, Gekrächze. Die abrupten Kopfbewegungen. Der zögerliche Gang, leicht wie bei Primaballerinas. Die Gesichter, die immer ein bisschen einfältig und ulkig wirken. Die Stimmen mit dem beleidigten Unterton. Goock, goock, goooooock. „Schauen Sie diese Henne, so ein prächtiges Exemplar“, sagt Mojzis. „Elegant in der Form, die weiche Linienführung, dieser Legebauch und diese schneeweißen Ohrscheiben. Perfekt.“

2012 war er Europameister mit den Sachsenhühnern. Einige seiner Vögel warten nun im Friedrich-Loeffler-Institut an der Ostsee darauf, dass ihnen Sperma entnommen und tiefgefroren wird. Ihr Genpool soll der Welt erhalten bleiben, sie stehen auf der Roten Liste der Gesellschaft zur Erhaltung alter Haustierrassen. Im Stall nebenan dem Knop-Dieter seine Barnevelder („die stehen super da“) sind auch gefährdet.

Mojzis, kaufmännischer Leiter bei einer Baufirma, fährt jeden Abend für eine Stunde raus zu seinen Tauben und Hühnern, füllt Wasser nach, macht ihnen einen Brei aus Kartoffeln, Mineralkalk, Bierhefe, Kleie. Ein Blick und er merkt, ob alles gut oder zum Beispiel eine Verwurmung im Anmarsch ist. „Man muss die Signale lesen, sich reindenken, quasi selber zum Geflügel werden“, sagt er. „Man muss emmer nach seine Viecher gucka“, sagt Wolfer, „nedd ersch was macha, wenn’s Zwoitletschte verreckt isch.“

Ein Göckele als Dankeschön

Er hat ein Stückle am Haus, wo seine Hühner leben und der Hahn seinen Morgensgruß zur Nachbarschaft senden kann. Bis jetzt kamen noch nie Beschwerden. Als Dankeschön gibt es ab und zu ein Göckele. Mal sehen, wie lang die frisch zugezogenen Stuttgarter mitmachen. „I kann meim Hahn ja schlecht saga, er soll doch bitte ersch om neune zom Krähe ofanga.“ Streit wegen einem Gockel – „des zermürbt“, sagt Wolfer.

Mojzis hat aus Versehen die Stalltür offen gelassen. Mit Unschuldsblick stehen die ersten Tiere vor dem Zaun, die anderen wollen schon nachkommen. „Aber jetzt schnell rein.“ Eine Zwergsachsenhenne hat sich zu den beiden Dorkinghähnen verirrt. „Ohje, geh nur raus, Mädle. So ein zartes Persönchen.“ Nicht lange, und die viermal so großen, hormongesteuerten Heißsporne würden über sie herfallen. Das Ende vom Lied wäre, dass sie ganz verschüchtert auf der Stange sitzt.

Vögel haben ihn schon immer fasziniert. Mojzis ist in einer Großfamilie und mit Gänsen, Enten, Tauben aufgewachsen. Mit fünf Jahren bekam er seine eigenen Hühner. Er hat nie pausiert, nicht in der Schulzeit, nicht während des Studiums, und wenn er mal in die Disco gehen wollte, machte der Opa abends für ihn zu.

Spannender als Wallander

Hier im Stall, das ist für Mojzis Stressabbau. „Wer mich so beobachtet, denkt sicher, ich bin verrückt und führe Selbstgespräche. Aber ich unterhalte mich mit meinen Hühnern. Diese Geschöpfe schenken einem so viel Zutrauen.“ Namen gibt er ihnen aber keine. Das Schönste sei, sagt Mojzis, wenn im Frühling alles zum Leben erwacht und er daheim den Brutschrank mit Eiern füllt, sie regelmäßig wendet wie Champagner. Nach 20 Tagen picken die Küken die Schale an. Dann brauchen sie einen Tag Ruhe, um Kraft zu sammeln und vollends durchzubrechen. Mojzis schaut zu. Das ist spannender als Wallander.

Und zur Geflügelzucht gehört eben auch, dass potente Junghähne irgendwann die Alten ablösen, neue Junghennen den Alten vorgezogen werden. Zur Blutauffrischung. Und dass die Ausgemusterten dann im Topf landen. Gefüllt mit Äpfeln, Tomaten und Karotten, gut mit Olivenöl bestrichen bei schwacher Hitze dreieinhalb Stunden im Gemüsesud garen lassen.