Sie lagen in vergessenen unterirdischen Gräbern Roms. Nach ihrer Entdeckung gelangten die Gebeine, die man für Überreste frühchristlicher Märtyrer hielt, zu Hunderten als geistliche Schutzschilde gegen die Reformation nach Süddeutschland, wo liebevolle Nonnenhände sie verzierten, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Die Geschichte der Katakombenheiligen.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Heiligkreuztal - Auf Kissen gebettet stützt Coronatus seinen Kopf in die rechte Hand, als denke er so ein bisschen ins Leere. Sein in Gazeschleier gehüllter Totenschädel hat seltsam volle Gesichtszüge: Lider, Nase, Wangen wurden mit Wachs nachmodelliert. Und seine Glasaugen scheinen des Sehens müde nach all der Zeit.

 

Der Heilige trägt eine perlenbestickte Kopfbedeckung aus rotem Samt. Die Haare aus Goldfäden sind zu Locken gedreht. Den Knochenleib schmückt eine soldatische Uniform mit Wams und Rock aus Brokat, üppig bestickt und juwelenbesetzt. Die frei liegenden Rippen werden am Brustbein durch eine prächtige Stoffbrücke gehalten. Die Samtschuhe haben flache Absätzchen.

Erich Fensterle, 64, trägt eine Steppweste über einem karierten Kurzarmhemd, helle Jeans und beige Freizeitschuhe. Vor den Führungen sagt er Eltern immer, dass sie selbst entscheiden müssen, ob ihre Kinder die alten Skelette sehen sollen.

Coronatus und die drei anderen Katakombenheiligen im oberschwäbischen Kloster Heiligkreuztal gehören zu einer fast vergessenen Ära in der katholischen Geschichte. Sie lagen eine Ewigkeit in unterirdischen Gräbern Roms. Wie Hunderte andere Gebeine, die man für Überreste von frühchristlichen Märtyrern hielt, gelangten sie nach ihrer Entdeckung im 17. und 18. Jahrhundert über die Alpen nach Süddeutschland. In ihren Adoptivgemeinden galten die Heiligen lange als Wundertäter und Beschützer. Später schämte man sich ihrer aber, ließ sie irgendwo vergammeln oder warf sie einfach weg.

Das Fenster zu einer mysteriösen Vergangenheit

Die himmlischen Leiber von Heiligkreuztal haben die schweren Zeiten überstanden. „Sie wurden auch immer dunkel und kühl gelagert“, sagt Erich Fensterle. Er betreut das kleine Klostermuseum. In seinem Reich gibt es Holzmadonnen, uralte Chorfenster, vor allem aber „Knöchele, Kreuzsplitter und andere heilige Partikel“. Fensterle liest die Inschriften laut und etwas holprig, „ich kann ja leider kein Latein“.

Seine Katakombenheiligen fesseln die Leute heute wieder. Weil sie das Fenster zu einer mysteriösen Vergangenheit öffnen. Zum Anfang. Vielleicht starben sie einst für ihren Glauben, das weiß keiner so genau. Dann wurden sie ausgegraben und als Tröster für verletzte katholische Seelen hergerichtet, wie es die Welt noch nicht sah.

Im 16. Jahrhundert hatte sich die Reformation ausgebreitet und die Christenheit gespalten. Die Ketzer griffen nicht nur die Dogmen, sondern auch die heiligen Reliquien an. Martin Luther sah in ihnen „völlig unnütze Dinge“, verhöhnte sie wegen ihrer fraglichen Herkunft als „Knochen von Hunden und Pferden“. Es blieb nicht beim Spott: Kirchen, Klöster wurden geplündert, Reliquien entweiht und vernichtet.

1545 fand sich die katholische Elite zu einer Art Strategiesitzung zusammen, die als Konzil von Trient schließlich 18 Jahre dauerte und die Kirche wieder stark machen sollte. Von den Reliquien ließ man nicht ab. Sie waren Anker für die Treuen und mächtige Wahrzeichen dafür, dass die christliche Welt ja einst auf Opfer gegründet wurde. Diese Schlacht gegen die Ketzerei musste man jetzt erneut führen. Doch wie an neue Skelette kommen? Darauf antwortet Gott am 31. Mai 1578.

Skelette in kilometerlangen Grabhöhlen

An jenem Tag entdecken Arbeiter in den Weinbergen entlang der römischen Via Salaria den Eingang zu kilometerlangen Grabhöhlen. In den Katakomben liegen die Gebeine Hunderttausender Toten, die zwischen dem ersten und fünften Jahrhundert im weichen Kalktuffboden Roms ihre letzte Ruhestätte fanden – vor allem Christen, aber auch Juden und Römer, die auf eine Erdbestattung Wert legten.

Die Fülle an Gerippen nährt die Versuchung, sich fortreißen zu lassen vom Gedanken an die frühen Tage des fließenden Blutes, der brennenden Scheiterhaufen – und in jedem Grab einen Märtyrer zu sehen. Doch so einfach geht das nicht mehr. In den Jahrhunderten zuvor reichte zuweilen ein übernatürliches Leuchten oder ein süßliches Odeur, das von menschlichen Knochen ausströmte – schon war der Beweis für eine Märtyrerreliquie erbracht. Damit ist nun Schluss. Nach dem Trienter Konzil müssen alle mutmaßlichen Heiligengebeine samt Beweismaterial dem Reliquienmeister im Vatikan vorgelegt werden. Und der vergibt sein Echtheitszertifikat nur, wenn er die strengen Richtlinien der neu geschaffenen Ritenkongregation erfüllt sieht.

Doch als die Nachfrage jenseits der Alpen nahezu hysterische Formen annimmt, wird die Authentifizierung schlampiger. Im Idealfall findet man ein Grab mit intakter Gedenktafel, die den Toten als Märtyrer ausweist. Weil das aber nicht oft vorkommt, reicht bald auch die Abkürzung „M“. Oder ein eingemeißelter Palmwedel. Kann die Identität des Toten beim besten Willen nicht geklärt werden, bekommt er eine neue. Gern genommen werden Namen beliebter Heiliger wie Valentin, dessen Überreste heute in Bad Schussenried und zugleich in drei, vier anderen Kirchen ruhen. Oder der Unbekannte wird gleich zum heiligen Anonymus oder Incognitus.

Wie Schneewittchen im Glassarg

Der heilige Coronatus gehörte einst zu einer Gruppe von Märtyrern, die unter dem römischen Kaiser Diokletian mit Bleiruten gepeitscht und in Metallkästen ersäuft wurden. Ob es wirklich seine Gebeine sind, die in Heiligkreuztal landen? Und wenn nicht – wäre der Schatz dann weniger kostbar?

Nach und nach gesellen sich weitere Heilige hinzu: Coelestinus, Innocentia und Luciana, ein graziles Wesen, höchstens 1,50 Meter groß, die anmutig wie Schneewittchen in ihrem Glassarg liegt.

Erich Fensterles Mutter ist als Mädchen noch alljährlich mit ihren Eltern zum Leiberfest ins Heiligkreuz-Münster gepilgert, wo die Gebeine aufgebahrt waren. Sie schauderte immer beim Anblick der „garnierten Leichen“, wie sie sagte. Ihrem Sohn haben es die heiligen Leiber angetan. „Früher waren sie Helfer in der Not. Heute geht es den Leuten viel besser, vielleicht denken sie, dass sie Gott nicht mehr brauchen.“ Er brauchte ihn schon. Als seine vierjährige Enkelin schwer krank wurde, saß er oft bei den Heiligen und betete. Sie kam durch. Vielleicht trugen Coronatus und Luciana ihren Teil bei.

Erich Fensterle ist Kaufmann von Beruf. Vor 25 Jahren wechselte er von Dornier in die klösterliche Finanzverwaltung, wo man ihn nur mit gespitztem Bleistift hinterm Ohr kannte. Als Rentner ist er dem Haus treu geblieben. Den Museumsjob, zu dem er kam „wie die Jungfrau zum Kind“, macht er ehrenamtlich.

Wenn er könnte, er würde sich sofort auf eine Zeitreise begeben. Zurück in eine Welt, als die Menschen noch wundergläubig und empfänglich für die verschwenderisch geschmückten Skelette waren. „Aus heutiger Sicht scheint das einfältig. Vielleicht auch etwas morbid. Aber die Leute hatten ein anderes Bewusstsein. Reliquien machten ihnen den Glauben spürbar.“

Transport im versiegelten Paket

Zu den ersten Katakombenheiligen, die den langen Weg über die Berge antreten, zählen Innozenz, Maximilan und Emmerentiana, die 1624 im oberschwäbischen Ochsenhausen ankommen. Für den Transport wickelt man die geweihten Knochen in Tücher und legt sie in eine Holzkiste. Das Paket wird mit roten Seidenbändern verschnürt, mit wasserdichtem Tuch abgedeckt und dreifach versiegelt.

Der Import boomt. Fast jede Kirche will so ein Gerippe haben: von Kempten bis Konstanz, von Wiblingen bis Waldburg, wo an diesem Sonntag wieder das Romulafest gefeiert wird, das auf die gleichnamige Heilige aus Rom zurückgeht. Für die Überführung der Knochen sind die Schweizer Gardisten, Mönche oder Pilger zuständig. Wenn ihnen ein untadelhafter Ruf vorauseilt, dürfen es auch protestantische Kaufleute sein.

Der heilige Coronatus erhält im Mai 1676 seine Freigabe als Reliquie. Oberschwäbische Nonnen machen mit liebevollen Händen, erstaunlichen anatomischen Kenntnissen sowie Wachs, Farbe, Draht, Leim und Stützgerüsten aus dem armseligen Knochenhäufchen ein Prachtstück. Wer immer Coronatus auch gewesen sein mag, nun wird er zum erhabenen Heiligen herausgeputzt und geht im Herzen der Gläubigen ganz in seiner Rolle auf. Die Ausschmückung kostet ein Vermögen. Die Glitzersteine aus geschliffenem Glas werden extra in Venedig bestellt. Oft sind die Juwelen echt: Die Heiligen der Abtei Salem etwa tragen 1000 Diamanten, Amethyste und Smaragde. Solche Investitionen lohnen sich auch finanziell – wenn die ersten Wallfahrer kommen. Das Kloster Gutenzell kalkuliert alles in allem 280 Gulden an Kosten für die heilige Justina, die 1699 eingeführt wird. 1701 sind die Ausgaben durch Pilgerspenden wieder drin.

Auch religiöse Pracht vergeht

Aber auch religiöse Pracht vergeht. Im 19. Jahrhundert beginnt der Niedergang der Katakombenheiligen. Für Protestanten waren sie eh schon immer tragische Figuren: von scheinheiligen Katholiken aus der Totenruhe gerissen und dann auch noch in entwürdigender Art zur Schau gestellt.

Im Zeitalter der Aufklärung wächst aber auch die Skepsis aus den eigenen Reihen. Zumal immer mehr ernüchternde Fakten über die Herkunft der Gebeine auftauchen. Eigentlich wurden ja alle namhaften Katakombenmärtyrer bereits im fünften Jahrhundert ausgegraben und in Sicherheit gebracht. Der Vatikan entscheidet schließlich: Dieser Gebeinehandel hört auf.

Als sich die Kirche abwendet, sind die gebenedeiten Knochen plötzlich kaum mehr als Abfall, den die Säkularisierungswellen fortspülen. Manche Skelette werden noch in Rumpelkammern eingemottet. Die wenigen, die an ihrem Ort bleiben, fallen genauso in Vergessenheit. In der Kirche von Kißlegg im Allgäu liegen heute vier Katakombenheilige, die vor Jahrhunderten mit großem Pomp empfangen wurden. Der jetzige Pfarrer muss erst überlegen, bis ihm Namen einfallen. Ein Severin und ein Clemens seien wohl dabei. Manchmal kommt es noch vor, dass ihn erstaunte Kirchenbesucher fragen: „Sind die echt?“ Verehrer haben die Gebeine schon lange keine mehr.

Die Heiligen müssen aus der Kirche

Das Kloster Heiligkreuztal wird Anfang des 19. Jahrhunderts aufgelöst. 1834 gehen die letzten Zisterzienserinnen. 1955 müssen die Katakombenheiligen ihre Stammplätze in der Kirche verlassen und landen in einem Kabuff, das sich 40 Jahre später ins Museum verwandelt. Seitdem sind die alten Helden wieder frei zur Bewunderung. Heiligkreuztal ist heute immer noch ein Kraftort, meinte ein Gast neulich. Im Tagungshaus des Klosters zählt man jährlich mehr als 20 000 Übernachtungen. Hier finden Manager Ruhe. „Himmlische Ruhe“, wie Erich Fensterle sagt. Seit er im Kloster arbeitet, behaupten seine Vereinskollegen, hat er selbst einen Heiligenschein bekommen.

Buchtipp
Der exzentrische Fotograf und promovierte Kunsthistoriker Paul Koudounaris aus Los Angeles hat für sein Buch „Katakombenheilige“ (erschienen im Grubbe-Verlag, 24,95 Euro) die Welt der heiligen Leiber erforscht.