Im Stuttgarter Schauspielhaus zeigt Antú Romero Nunes „Die Räuber“ von Friedrich Schiller. Das große Unruhestück des deutschen Theaters lädt der Regisseur mit der Unruhe der heutigen Jugend auf. Nur die Bühnentechnik droht zeitweilig mit Streik.

Stuttgart - Die Bühne ist schwarz und leer und ein endloses Nichts. Nur vorne, an der Rampe, tut sich etwas. Von Scheinwerfern aus der ewigen Nacht geschält, bereitet sich Michael Klammer auf seine Rolle vor. Er soll Karl Moor spielen, den in Wort und Tat kraftmeierischen Anführer der marodierend durchs Land ziehenden, bei Schiller auch titelgebenden „Räuber“. Keine leichte Aufgabe im ausgenüchterten 21. Jahrhundert, das sich vom besoffenen Pathos des 18. Jahrhunderts nicht mehr berauschen lassen will. Was tun?

 

Klammer macht sich Gedanken über den heiklen Job und die hohen Erwartungen, die das Publikum an ihn richtet. Unmerklich rutscht er dabei in ein Warming-up und spielt schlagfertig mit Zwischenrufen aus dem Parkett, wobei er immer wieder blitzschnell ins Schiller-Spiel mit Schiller-Text gleitet. Und irgendwann, wieder als Comedian, toll wie Harald Schmidt zu besten Zeiten, wendet er sich kurz vom Publikum ab und der Bühne in seinem Rücken zu: „Der brennt fürs Theater“, sagt Klammer lapidar, als er den Mann sieht, der mit entflammten Anorak völlig unaufgeregt und wortlos durch die Nacht schreitet: „Hm. Nur so ein Einfall. Hat nichts zu bedeuten“, kommentiert er die stumme Zehnsekundennummer – und doch ahnt jeder im Saal, dass dieser Klammersatz eine glatte Lüge ist: Alle, die an dieser tollen Schiller-Inszenierung beteiligt sind, brennen für die gemeinsame Bühnensache mit einem Enthusiasmus, der ansteckend wirkt. Großer Jubel nach starken, klugen und kurzweiligen zweieinhalb Stunden im Stuttgarter Schauspielhaus!

Von Technikpannen traumatisierte Theaterleute

Zu Beginn des Abends freilich ist dieser neuerliche Erfolg der Petras-Intendanz keineswegs ausgemacht. Im Gegenteil: er ist höchst gefährdet, weil – horribile dictu – im Theater die vermaledeite Bühnentechnik wieder streikt! Kurz vor Beginn der Vorstellung ist nämlich das Steuerungssystem abgestürzt, die Betreiberfirma wählt sich von außen ein und kann nach zwei gescheiterten Versuchen die Software im dritten Anlauf stabilisieren. Von „Kinderkrankheiten“ sprechen nach Vorstellungsende die von Technikpannen traumatisierten Theaterleute, von kleineren Rechnerausfällen, die peu à peu behoben werden müssten, den Betrieb als solchen aber nicht mehr gefährden würden. Und so geschah es auch: Schillers „Räuber“ starteten zwar mit einer halben Stunde Verspätung, liefen aber technisch reibungslos über die Bühne – und künstlerisch sowieso, denn dem dreißigjährigen Antú Romero Nunes ist mit seiner vom Berliner Gorki-Theater übernommenen Schiller-Montage ein großer Wurf gelungen: postdramatisches Theater, das seinen Stoff mittels drei in sich zersplitterten Langmonologen gründlich zerlegt, ihn aber hernach ebenso gründlich und sinnreich wieder neu zusammensetzt, zu Nutz und Frommen des heiter mitdenkenden Publikums.

Dem famos entertainenden Michael Klammer gehört dabei als Karl Moor der letzte Teil des vielfach verspiegelten Triptychons. Teil zwei fällt seiner Verlobten zu, der Amalie der sich emphatisch dem Tragödienton hingebenden Aenne Schwarz. Teil eins indes wird beherrscht vom Franz Moor des Paul Schröder, der – wie später der ihm verhasste Bruder Karl – zu Beginn des Abends von einem Lichtkegel aus dem Dunkel geschnitten wird. Auch Schröder schlüpft vor versammeltem Publikum in seine Rolle, der er freilich sogleich wieder entschlüpft, indem er kumpelhaft die Zuschauer im Saal anspricht. Sätze, die dem Vater gelten, schießt er feixend ins Publikum, bevor er dann wieder schelmisch die Franz-Rolle einnimmt, zumindest halb. Pantomimisch entfaltet er den von ihm fingierten Brief, der die Schreckenskunde von der moralischen Verkommenheit des Bruders enthält: Karl Moor, so lügt er’s dem Vater vor, ist verschuldet, hat die Tochter eines Bankiers entjungfert, ihren Verehrer erschossen und befindet sich auf der Flucht vor der Polizei. Als Karl daraufhin fälschlicherweise enterbt wird, wirft er sich tatsächlich ins „Luderleben“ mit den Räubergesellen. Und eben davon handelt Schillers 1782 in Mannheim uraufgeführtes Sturm-und- Drang-Drama: von der Feindschaft zweier Brüder und ihrem jeweiligen Aufbegehren.

Vulkanisch lodernde Metaphernsprache

Davon handelt nun auch, keine Frage, die eigensinnige Inszenierung von Romero Nunes. Der in Tübingen geborene, im Melchinger Lindenhof groß gewordene, heute an allen Häusern gefragte Regisseur verrät das Stück keineswegs, aber er verschlankt es doch drastisch. Wo Schiller viele Figuren und Orte braucht, um den finsteren Materialismus hier, den grellen Idealismus dort darzustellen, braucht Nunes: fast nichts. Drei virtuose Spieler auf der Einheitsbühne genügen ihm, um wie in einem Kaleidoskop immer wieder andere und verblüffend neue Schiller-Muster zu entwerfen. Das Schöne dabei ist: trotz aller Reduktion, trotz aller Verspieltheit und Liebe zum Gag wird der Klassiker selbst nicht sonderlich beschädigt, am allerwenigsten seine kühne, vulkanisch lodernde Metaphernsprache.

Das liegt zum einen an der brillanten, von der Dramaturgin Carmen Wolfram erstellten Textcollage, die keine einzige zentrale Textstelle der „Räuber“ unterschlägt. Und das liegt zum anderen an der genialen Spielweise, auf die der Regisseur sein junges Ensemble verpflichtet. Immer wieder knackt es die feurigen Schiller-Sätze auf, um sie durchs ätzende Säurebad der Ironie zu ziehen, es distanziert sich vom Pathos der Figuren, um sich danach freilich, sozusagen intellektuell gereinigt, mit umso größerem Schwung wieder ins Originaldrama zu stürzen, ganz ohne Diffamierungslust und Diffamierungswut. Abstand nehmen, um Nähe zu gewinnen: ein wunderbares Paradox, das vermutlich nur in Glücksfällen seine Wirkkraft voll entfaltet.

Bei Schillers „Räubern“ im Schauspielhaus liegt ein solch seltener Fall vor. Antú Romero Nunes gibt dem großen Jugend- und Unruhestück des deutschen Theaters die heiß-kalt nervöse Unruhe der heutigen Jugend zurück: Im Ernst spielt sie mit dem Leben, nicht nur auf der Bühne. Reingehen!