Ein Ereignis: In Tübingen eröffnet die faszinierende amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt ihre Poetik-Dozentur und erzählt, warum wir ohne Geschichten nicht leben könnten.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Montagabend, 20.15 Uhr, Tübingen, Hörsaal 25 fast restlos besetzt, akademische Betriebsamkeit. Immer noch regiert teilweise dieses scheinjoviale Männerprofessorenpalaver: als würde man vor einen Schrein geführt, den dann ein Gesalbter enthüllt. Teilansichten, nur gucken, nicht anfassen. Und bitte in Bahnen denken.

 

Aber da steht dann auch schon Siri Hustvedt am Pult, die einen solchen Rahmen anmutig sprengt, und beginnt im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur mit einem Plädoyer fürs Erzählen: „Wrong Number or For Narrativity“ ist vier Abende lang das Thema. Und natürlich eröffnet Siri Hustvedt, die als Professorin und Schriftstellerin mit grandios eigenwilliger Selbstverständlichkeit die wirkliche und die künstliche Welt verbinden kann, die Vorlesung mit einer Geschichte. Sie spielt in Paris und handelt von einer Frau, die gerade über den Atlantik geflogen ist (Siri Hustvedt wohnt mit ihrem Mann, Paul Auster, in Brooklyn), im Hotelbett liegt und nicht schlafen kann. Sie nimmt eine Schlaftablette, Marke Ambien.

Welcher Mann hätte sich getraut, das zu schreiben

„Schlafen/Nicht schlafen“ als Thema ist Lesern von Siri Hustvedts Essays aus dem im Jahr 2014 auf Deutsch erschienenen Buch „Lesen, Denken, Schauen“ bekannt, in dem die Realität – ein Seinszustand geht in einen anderen über – mit der Literatur kunstvoll verwoben wird: auf gerade mal zwei Seiten gelangt Siri Hustvedt wie eine Seiltänzerin von Geoffrey Chaucers Gedicht „Das Buch der Herzogin“, dessen Erzähler nicht einschlafen kann, über eine bezeichnende Passage aus Vladimir Nabokovs „Erinnerung, sprich“ zu Jorge Luis Borges Gedicht „Schaflosigkeit“, in dem das Ich umsonst darauf wartet, die Stimulationen der Außenwelt hinter sich lassen zu dürfen. Der Aufsatz ist, mit Verweisen aus der naturwissenschaftlichen Forschung über Ovid bis zu Freud, einerseits gelehrt und andererseits lebensnah, also genau das, was Literaturwissenschaft oft nicht ist. Er endet mit den Ritualen, die Kinder brauchen, damit ihnen der Übergang ins „eigene Land des Schlafs“ so sanft wie möglich gelingt. Welcher Mann hätte sich je getraut, so etwas zu schreiben?

Jedenfalls: als Ambien in Paris und in Siri Hustvedts Körper gerade seine Wirkung entfaltet, erfahren wir in Tübingen, klingelt das Telefon, was die Schlafende für den vereinbarten Weckruf hält. Also beginnt sie, das Routineprogramm energisch in Gang zu setzen, „schrubbt“ und trocknet sich ab, zieht sich an und schaut endlich auf die Uhr: 1.17 Uhr MEZ. Leises Lachen im Auditorium. Es ist der Moment, in dem Hustvedt ihr Publikum, akademisch gebildet oder einfach nur interessiert, gewissermaßen am Haken hat. Und nun lässt sie die einen wie die anderen kaum mehr los. Zuerst nämlich wird aus der Begebenheit, die Hustvedt aus dem Bewusstseinsstrom herauslöst (und die sich so, aber auch ganz anders erzählen ließe), eine Story in der Manier der Stummfilme von Buster Keaton: Slapstick, mithin betrachtet durch die Linse des Komischen. Nebenbei klärt Hustvedt den Unterschied zwischen Erzähler-Ich und echtem Ich und die Differenz zwischen Jetzt und Damals in einem Text.

Nun aber folgt eine typisch Hustvedtsche Volte. Die Linguisten, Psychoanalytiker und philologischen Poststrukturalisten (die sie nur zu gut kennt) haben die Welt, legt sie nahe, lediglich unter einigen verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert – denen ihrer Wahl. Ein paar naheliegende jedoch haben sie ausgelassen, zum Beispiel, wie wir das Erzählen über den Rhythmus lernen, und was unsere Portion an Prä-Narrativem, die wir mit auf die Welt bekommen, vielleicht mit der Abhängigkeit des Fötus von der Mutter zu tun haben könnte. Die Plazenta, gerne verbrannt oder verbuddelt nach der Geburt, sei in diesem Zusammenhang schwer „untererforscht“.

Die Stärke der Empfindung entscheidet über die Wahrheit

Dass die analytische Philosophie (und nicht nur die Philosophie) den Körper vernachlässigt hat, gehört seit einiger Zeit – und allemal seit „Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven“ von 2010 – zum Thesenrepertoire von Siri Hustvedt, die es schafft, ihre eigene Befindlichkeit zu thematisieren und ins Allgemeine und Hochinteressante zu überhöhen, ohne dass auch nur der Anflug von Peinlichkeit aufkäme. Im Gegenteil: jedes Detail, ob aus neurologischer oder literaturwissenschaftlicher Sicht, wird mit dem anderen artistisch verbunden. Die Analyse selber ist eine Story, die ihrerseits reflektiert, wie eine Geschichte sich gegenüber der vermeintlich tatsächlich erlebten, subjektiven Wahrheit als Muster durchsetzt.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Siri Hustvedt in ihrem ersten Tübinger Vortrag einem Aufsatz des britischen Philosophen Galen Strawson, „Against Narrativity“. Strawson vertritt die Meinung, dass sich der Mensch mit jedem Narrativ, jeder Geschichte weiter von der Wirklichkeit entferne, und Siri Hustvedt geht dieser These tief auf den Grund, ehe sie deren Inhalt mit ein paar Sätzen geradezu pulverisiert: In der Kunst, zitiert sie Henry James (neben Charles Dickens einer ihrer Säulenheiligen), komme es auf die Stärke der Empfindung an, die über den Wahrheitsgehalt entscheide. Ihre Abneigung gegenüber dem designierten Präsidenten verhehlt Siri Hustvedt nicht, und wer weiß, wieviel Trump hier als Folie taugt? In diesem geistigen Spannungsfeld wird sich Hustvedt in Tübingen diese Woche (jeweils 20 Uhr) bewegen, um als Erzählerin das Erzählte zu thematisieren. Wer je in Gedanken dabei sein kann: selten sieht man geistig klarer.