1959 zog sich Theodor Heuss in sein Haus am Killesberg zurück. Die Briefe, die der ehemalige Bundespräsident in den folgenden Jahren schrieb, werden nun veröffentlicht.

Stuttgart - Briefe schreiben die Leute heutzutage kaum noch. Selbst das reguläre Telefonieren droht altmodisch zu werden. Für Theodor Heuss, der noch aus einer anderen Zeit stammte, war das Schreiben von Briefen das bevorzugte Mittel der Kommunikation. Das entsprach auch seinem bildungsbürgerlichen Gestus.

 

Die Stiftung Theodor-Heuss-Haus hat eine Auswahl getroffen und stellt sie seit 2009 in einer Briefreihe mit dem Titel „Stuttgarter Ausgabe“ vor. Der achte und letzte Band ist jetzt erschienen. Der Herausgeber Frieder Günther hat aus den 10 500 Schreiben, die Heuss während seines „Ruhestandes“ zwischen dem 16. September 1959 (Umzug von Bonn nach Stuttgart) und dem 12. Dezember 1963 (Todestag) verfasst hat, 200 Dokumente ausgewählt, kommentiert und eingeleitet. Heuss war wohl einer der letzten großen Briefschreiber, und dank dieser Neigung erfahren wir viel über die letzten Lebensjahre des ersten Bundespräsidenten der Republik.

Zunächst einmal freute sich Heuss darauf, in sein „Häusle“, wie er es nannte, auf dem Killesberg, Feuerbacher Weg Nr. 46, einzuziehen, um dort in Ruhe lang gehegte Pläne wissenschaftlicher und anderer Art in Angriff zu nehmen. Doch das blieb weitgehend ein Wunschtraum. Schon beim Einzug empfing ihn eine jubelnde Menschenmenge. Heuss musste sie abwehren: „So, jetzt langet’s aber. Jetzt ganget no hoim zu eure Kender und lend mir mei Ruh.“ Aber die Fotografen drängten nach und wollten ihn auch in seinen neuen Räumen abbilden. Heuss musste drohen, er werde jeden eigenhändig hinausschmeißen, der in sein Haus eindringe. Er wusste, dass er ein beliebter Bundespräsident gewesen war, aber die Folgen für seinen Ruhestand hatte er wohl unterschätzt. Immer wieder klingelten Besucher, fremde Menschen, die sich mit ihm unterhalten wollten. Mehrfach musste er mit der Polizei drohen. Sein Haus sei doch kein Wallfahrtsort.

„Im Stellungskrieg der Notwehr“

Auf eine andere Art lästig waren die vielen Briefe, die ihn von überall her täglich erreichten. Den Menschen fiel es offenbar schwer zu akzeptieren, dass Heuss kein Staatsmann mehr war. Seine Sekretärin – mehr Hilfskräfte hatte er nicht – verfasste ein Formschreiben, mit dem die Briefe an die Absender zurückgingen. Wie groß das Vertrauen war, das der Ruheständler immer noch genoss, beweist die Tatsache, dass man ihn um Hilfe in Wohnungs- oder Rentenfragen anging, manchmal auch um ein Darlehen, so dass der Bescheid erging, Professor Heuss habe kein Kreditinstitut eröffnet. In vielen seiner Briefe ist die Klage über den unmäßigen Posteingang enthalten, „diese sinnlos große Korrespondenz, die mich von meinen literarischen Plänen abhält“. Er befinde sich „im Stellungskrieg der Notwehr“.

Den Vorschlag seines Sohnes Ernst Ludwig, die Post in den Papierkorb zu werfen, lehnte Heuss aber ab. Ein gewisses Maß an Verbindlichkeit auch gegenüber Unbekannten wollte er wahren. Wütend wurde er über einen Schreiber: „Dass Sie mir einen eingeschriebenen Eilbrief am Sonntagmorgen zugesandt haben, und das in einer Sache, die mich nichts angeht.“ Seine Unzufriedenheit wuchs auch deshalb, weil sich sein Gesundheitszustand verschlechterte. „Ob und wie lange ich dieses geplagte Leben, in dem man mir keine Ruhe gönnt, weiterführen darf, weiß ich nicht.“

Häufig wurde der Ex-Bundespräsident als Redner angefragt. So sollte er dem „Allgemeinen Schnauferl-Club“ zu dessen sechzigjährigem Bestehen die Festrede halten, ein Ansinnen, das Heuss „verwegen naiv“ fand: „Ich selber habe noch nie ein Steuer in der Hand gehabt!“ Immer wieder musste er sich wehren gegen die Jubiläumssucht der Deutschen und die Festschriftenlust der Gelehrten, insbesondere auch gegen „den hochgespielten 65.Geburtstag, der im Grund nur eine Freud- und Leidstation für Beamte ist.“ Ständig in Sorge war er um die Verkitschung seiner eigenen Person, der Anrede als „Papa Heuss“, von der er sich degradiert fühlte, die aber auch Ausdruck seiner Beliebtheit war. Gegenüber Konrad Adenauer äußerte er die Hoffnung, „dass mir die Deutschen irgendwann etwas mehr Ruhe gönnen. Gelegentlich habe ich die schwäbische Grobheit als Hilfskraft aktiviert.“

Im Clinch mit der Presse

Einen groben Ton musste er sogar gegenüber seinem unmittelbaren Nachbarn anschlagen. Das Haustier des Herrn Nallinger habe das Talent, „sich vom bellenden zum kläffenden Hund zu entwickeln“. In einem Rundschreiben teilte er den Hundehaltern am Killesberg generell mit: „Wenn ich an meinen Manuskripten arbeite, ist diese Bellerei, ob es sich um eine Sololeistung oder ein polemisches Duett oder ein disharmonisches Trio handelt, einfach unerträglich.“

Weil Heuss gerne am Bismarckturm spazieren ging und von dort die Aussicht genoss, regte er beim Oberbürgermeister Arnulf Klett an, am Aufgang zum Turm ein Geländer anzubringen, da er leicht gehbehindert sei. Klett nahm diese „wertvolle Anregung“ schon deshalb gerne auf, weil er seinem Stadtbürger Heuss zu Dank verpflichtet war. In einem Brief an Josef Eberle, den Herausgeber der Stuttgarter Zeitung, hatte Heuss gerügt, wie die Zeitung mit Klett umgehe. Im Sommer 1960 ermittelte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen den Oberbürgermeister wegen passiver Bestechung, weil er zu seinem 50. Geburtstag von der Daimler-Benz AG einen Orientteppich als Geschenk angenommen hatte. Die Stuttgarter Zeitung berichtete ausführlich über den Fall und forderte Klett auf, seine Amtsgeschäfte so lange ruhen zu lassen, bis die Angelegenheit gerichtlich geklärt sei. Heuss schrieb an Eberle: „Ich habe das lebhafte Empfinden, dass dem Mann geflissentlich Unrecht geschieht.“ Er, Heuss, habe mit einem wichtigen Mann der Bundesjustizverwaltung darüber gesprochen, „dass wir in der Gefahr stehen, in Deutschland aus dem Versuch einer Demokratie in eine Diktatur der Staatsanwälte zu geraten“. Soweit er die Presse verfolgt habe, „sind die Geschichten, derentwegen man jetzt eine publizistische Treibjagd gegen Klett veranstaltet, einfach subaltern und wichtigtuerisch“. Es tue ihm leid, dass die Zeitung diesen wichtigtuerischen Staatsanwälten Schützenhilfe leiste.

Obwohl liberal, hatte Heuss schon in den Jahren der Weimarer Republik für die Rolle und die Belange der Presse nicht immer das nötige Verständnis aufgebracht. Gestärkt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungs- und Pressefreiheit waren die Medien schon gegen Ende der Amtszeit von Heuss meinungsfreudiger geworden. Sie waren auch weniger institutionengläubig – und damit tat Heuss sich schwer. So urteilte er 1962 in einem Brief an den damals sehr bekannten Bonner Journalisten Walter Henkels, er habe „Schmonzes“ geschrieben.

Rezensionen für die Stuttgarter Zeitung

Henkels hatte über einen Empfang des Bundesverfassungsgerichts berichtet, an dem auch Heuss und der damalige Bundesjustizminister Wolfgang Stammberger teilgenommen hatten. Dort sei es wegen der übertriebenen „schwäbischen Sparsamkeit“, für die der damalige Präsident Gebhard Müller berüchtigt war, so spartanisch zugegangen, dass Heuss und Stammberger schon bei den kleinen Appetithäppchen nicht hätten erkennen können, ob sie mit Butter bestrichen waren. Anschließend hätten die beiden ihre Chauffeure angewiesen, eine Gastwirtschaft anzusteuern, „damit sie, wie sie sich ausdrückten, endlich etwas in den Magen bekamen“. In seinem Brief bestreitet Heuss den Vorgang, er habe jedenfalls danach kein Gasthaus aufgesucht, von Stammberger wisse er es aber nicht. Gebhard Müller gegenüber habe er, Heuss, Verständnis bekundet, „denn der Vorwurf der Sparsamkeit geht hier über in die Anklage auf Geiz“.

Mit dem „Spiegel“ und seinem Herausgeber Rudolf Augstein lag Heuss in einer Art Dauerfehde. Regelmäßig sah er sich gezwungen, Gegendarstellungen an das Hamburger Magazin zu richten. Augstein entgegnete, er finde es nett, von ihm ständig Berichtigungen zu erhalten. Andererseits: Wenn Heuss sich in der Presse nicht hinreichend gewürdigt oder gar übergangen fühlte, beschwerte er sich massiv. Als Heuss von der Universität Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen bekam, darüber aber nichts in der „Frankfurter Allgemeinen“ stand, rügte er das Blatt heftig. Nicht selten forderte er die Stuttgarter Zeitung oder die FAZ auf, Redakteure zu Veranstaltungen zu schicken, auf denen er eine Rede hielt. Für das Stuttgarter Blatt verfasste er Rezensionen über Bücher, die ihm empfehlenswert schienen. Wohlkalkuliert nutzte er dazu seine privilegierten Kontakte, merkte aber, dass sein Einfluss allmählich zurückging.

Am deutlichsten spürte er das an der Art und Weise, wie das Fernsehen mit ihm umging. Als Heuss von einer Indienreise zurückkehrte, wurde er dazu vom Fernsehen in seinem Haus am Killesberg interviewt. Die Aufzeichnung wurde aber nicht zum angegebenen Zeitpunkt gesendet, sondern um eine Stunde verschoben und auch noch um eine Viertelstunde gekürzt. Es wurde der Vorwurf laut, die Ausführungen seien teilweise zu langatmig gewesen. Heuss nannte den Vorgang eine „Unverschämtheit“. Als dann auch ein Verlag einen bestellten Beitrag über seinen politischen Mentor Friedrich Naumann glattweg ablehnte, war Heuss fassungslos: „Ich bin es nicht gewohnt, dass man so über mich verfügt.“

Spätes Liebesglück

Eigentlich hätte Heuss den Medien auch dankbar sein müssen, nämlich dafür, dass sie seine Privatheit in einem für ihn wichtigen Punkt respektierten. Es ging um seine Liebesbeziehung zu der aus Österreich stammenden, seit 1933 in New York lebenden Jüdin Toni Stolper. Das hätte, so schreibt der Herausgeber der Briefesammlung Frieder Günther, „aufgrund der damals noch äußerst rigiden Sexualmoral durchaus zu einem regelrechten Skandal aufgebläht werden können“.

Der Witwer Heuss war der Witwe Stolper am 8. Mai 1955 bei der Gedenkfeier zu Friedrich Schillers 150. Todestag begegnet, und beide hatten sich bald darauf ihre Zuneigung gestanden. Sie trafen sich hin und wieder und unternahmen gemeinsame Reisen. Vor allem aber schrieben sie sich Briefe. Erfreulicherweise enthält der vorliegende Band etliche dieser „Tagebuch-Briefe“, die Heuss an Toni Stolper richtete. Darin geht es oft um kulturelle Ereignisse, aber auch um Alltägliches. So berichtet ihr Heuss Ende 1959 von einer „heiteren, aber mich nicht weiter schockierenden Anekdote“. Er habe auf der Fahrt zur Uraufführung einer Carl-Orff-Oper im Stuttgarter Staatstheater entdeckt, „dass ich meine untere Zahnprothese beim Schlussreinigen im Badezimmer hatte liegenlassen“. Da es nach der Aufführung einen Empfang gab, habe ihn der Kultusminister „schnell vors Haus fahren müssen“.

Toni Stolper schrieb damals eine Biografie über ihren 1947 verstorbenen Mann: „Ein Leben in Brennpunkten unserer Zeit.“ Für die Stuttgarter Zeitung verfasste Heuss darüber eine Lobeshymne, und auch die FAZ wurde in die Pflicht genommen. Ein Wiener Historiker, der das Buch kritisierte, wurde von Heuss regelrecht abgekanzelt.

Keine Lust auf Diabetikerrotwein

Politisch hielt sich Heuss zurück. Zwar trat er noch in Wahlveranstaltungen der FDP auf, dies aber aus gesundheitlichen Gründen immer weniger. Aus der Bonner Politik wollte er sich ganz heraushalten, und er vermied es, mit seinem Nachfolger Heinrich Lübke öffentlich aufzutreten. An den Chef des Bundespräsidialamtes schrieb er nach einer gemeinsamen Eröffnung der Bundesgartenschau in Stuttgart: „Es ist nicht gut, wenn Dr. Lübke und ich gleichzeitig auftreten, da ich den größeren Beifall erhalte und im Sprechen sicherer wirke.“ An Toni Stolper berichtete er, in Stuttgart habe Lübke als Redner „leider ziemlich deplorabel“ gewirkt. Hinterher habe man ihm berichtet, im Radio wirke dieses Sich-Verhaspeln noch peinlicher. Eine Schallplatte mit Theodor-Heuss-Reden, auf der Lübke eine Einführung sprach, verärgerte Heuss ziemlich: „Man hätte ihn nicht zum Propaganda-Herold gewinnen dürfen. Er soll nicht mit der Peitsche knallen müssen.“

Im Oktober 1961 schickte ihm seine Jugendfreundin Helene Ecarius aus Speyer eine Kiste Diabetikerwein, denn sie hatte erfahren, dass Heuss zuckerkrank war. Er bedankte sich höflich, lehnte aber entschieden ab: „Ich habe in meinem ganzen Leben nie Mosel bevorzugt, so wenig wie ich mich auf Euren süßen Pfälzer Spitzenwein eingelassen habe.“ Wenn er abends seinen Rotwein trinke (meist Brackenheimer Zweifelberg Lemberger trocken), dann stelle sich „produktive Behaglichkeit“ ein, und da komme mehr dabei heraus als „bei der pedantischen Überlegung, was gesundheitssichernd ist“.