Die 55-jährige Hildegard Merkle ist Sprengmeisterin. Ein Tag mit der „Pulver-Hilde“ in einem Gipsbruch bei Schwäbisch Hall.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Vellberg - Ein leerer Linienbus fährt über Land, vorbei an weiten Wiesen und Feldern. Ein Traktor holpert ins Dorf, den Anhänger voll mit großen Mistbollen. Die Straßen heißen „Im Dörfle“ und „Am Bach“. Alte Bauernhäuser stehen neben Eigenheimen mit neumodischen Säulenportalen und Balkonen im Landhausstil. Rotkehlchen flöten kummervoll, Meisen singen ihr „si si si“, Krähen belagern die Äcker. Trollblume und Wiesenknöterich lieben die tiefgründigen Talauen, auf den trockenen Keuperhängen wachsen Wacholder und Habichtskraut.

 

Hildegard Merkle versenkt eine Patrone im Gips Foto: A. Reiner
In der Vellberger Bucht findet die Hohenloher Ebene zu den Schwäbisch-Fränkischen Waldbergen, stoßen lößüberdeckte Kalkböden auf mächtige Sandsteinschichten. Und mittendrin ein anderer Planet: der Gipsbruch bei Lorenzenzimmern, eine 15 Meter tiefe und acht Hektar große fantastische Marslandschaft. „Es ist wunderschön hier“, sagt Hildegard Merkle. Daheim in Uttenweiler am Fuße des Bussen nennt man sie schlicht „Pulver-Hilde“. Eine Frau mit Feuer unterm Hintern. Die Haare rot wie glühende Lava, ihr oberschwäbischer Dialekt heimelig wie ein Kaminofen, ihr Arbeitsplatz lebensgefährlich. „Pulver-Hilde“ ist Sprengmeisterin.

„Danger Explosive Blasting Type A“ steht auf den Stangen, die außen und innen aussehen wie Paprikalyoner, sich auch so anfühlen. Aber besser, man kommt ihnen nicht so nahe: „Das Sprengöl lässt einem das Herz rasen, macht einen für kurze Zeit blöd im Kopf“, sagt die 55-Jährige. „Giftig, aber ungeheuer zerbrecherisch.“ Der stärkste Stoff unter den gewerblichen Sprengmitteln. Schwierig zu produzieren, im Einkauf relativ teuer. Trotzdem kostet ein Kilo weniger als ein Kilo Brot. Der Sprengstofflieferant hat die Fracht an diesem Morgen gebracht, ganz frisch für den großen Knall. Kleinmengen transportiert Merkle auch selbst. Als sie noch keinen Gefahrengut-Führerschein hatte, schlief sie nachts im Steinbruch, weil sie das Zeug nicht unbeaufsichtigt lassen, damit aber auch nicht rausfahren durfte.

Eine Schubkarre voll Sprengstoff

Für die nächste Explosion hat sie 300 Kilogramm eingeplant. „Die Frage ist immer: Wie viel Sprengmittel brauche ich, dass es stimmig ist? Die Spanne zwischen überladen und unterladen ist gering.“ Merkle schiebt eine Schubkarre voll Sprengstoff zu den Löchern. Ihr Sohn Michael, 31, hat sie gebohrt, 40 Stück. Sie sind vier Meter tief und werden mit je vier der gelatinösen Patronen geladen. Merkle drückt einen elektrischen Zünder halb in die erste Sprengwurst, lässt sie am Kabel ins Loch ab, man hört sie in Wasser plumpsen. „Wir sind hier schon im Anhydrid, schlechter Gips, der ist nur für den Bau gut.“ Der gute sieht dreckiger aus, aber das täuscht. Er ist reiner, edler, weicher. Merkle hat ihn an der Stelle bereits abgebaut für den Casea-Konzern, man verwendet ihn in der Zahnmedizin, in der Porzellan- und der Lebensmittelindustrie.

Sie seilt die nächste Patrone ab, drückt sie mit einer Stange fest auf die untere. Das ist nicht ungefährlich, die Zünder sind empfindlich – „die können einem locker das Gesicht kaputtmachen“. Aber sie hat das schon im Griff. Den Patronen selbst macht ein kräftiger Stupser nichts aus. Gefährlich wird es, wenn sie nicht hochgehen. Wenn beim Abräumen die Baggerschaufel in so einen Versager stößt, kann das nitroglyzerinhaltige Sprengöl austreten und sich entzünden. Merkle merkt gleich bei der Sprengung, ob ein Blindgänger dabei ist. Dann muss sie ihn so sorgfältig freilegen wie Archäologen ein Keltengrab.

Sie hat Bürokauffrau gelernt, sich später mit einem Eierhandel selbstständig gemacht. Nach der Heirat gründete sie mit ihrem Mann eine Tiefbaufirma. „Da war ich Mädchen für alles, den Lkw-Führerschein hab ich auch.“ Sie überlegten sich, für die felsige Alb einen Meißelbagger oder eine Grabenfräse zu kaufen – oder gleich mit Dynamit zu arbeiten. „Mein Mann wollte das Sprengen nicht lernen, da hab ich es halt gemacht“, sagt Merkle. Von nun an war sie also Mutter, Hausfrau, Bürokraft und die Frau am Zünder.

Wie ein Netz von Äderchen

2003 die Scheidung. Er kaufte sich einen Meißelbagger und brauchte sie nicht mehr. „Einer musste gehen, da ging halt ich“, sagt Merkle. „Ich überlegte, was ich tun könnte, und machte eine Ich-AG aus mir: Hildegard Merkle, Büro- und Sprengarbeiten.“ Bald hantierte sie mehr mit Nitroglyzerin als mit Büroklammern. Die ersten drei Jahre sprengte sie ohne Versicherungsschutz. „Der Vertreter sagte, er bewundere mich, eine Police könne er mir aber nicht geben.“

Sie holt sich beim Sohn Nachschub an Zündern. „Es ist besser, wenn nur eine Person sie auslegt, sonst wird das Ganze zu verwirrend.“ Alle 40 Zünder werden in Reihe geschaltet wie eine Christbaumkette. Kabel überziehen den Gipsboden wie ein Netz von Äderchen. Alle Zünder kriegen gleichzeitig Strom, zünden aber mit je 25 Millisekunden Verzögerung. So gibt Merkle der Explosion eine Richtung – zum Wald hin, weg vom Dorf. „Es ist schonender für die Umgebung, wenn man lauter kleine Spitzen hat statt eines großen Knalls.“ Der Druck geht in den Boden und schwingt dort aus. „Die Leute im Ort spüren es manchmal. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Erschütterung für Gebäude gefährlich ist.“

Sie hat oft Aufträge, bei denen sie Anwohner beruhigen muss. „Ich gehe dann in die Häuser und rede mit ihnen. Ich übernachte auch immer in einer Pension im Ort, damit die Leute merken, ich bin eine von ihnen.“ Außerdem bekommt man da am meisten mit, wenn es am Stammtisch dann zum Beispiel heißt: „Gestern hat man’s ganz schön gemerkt“. Das Schlimmste sei, sagt sie, wenn man Vertrauen zerstöre. „Ich will jederzeit wiederkommen und Hallo sagen können.“

Nagelfluh ist ein Teufelszeug

Der Anfang war schwer. Als sie noch mit ihrem Mann zusammenarbeitete, hatte sie vor nichts Angst. „Doch nun war ich auf mich allein gestellt. Für Entscheidungen, die ich früher kurz nebenbei gefällt hatte, brauchte ich jetzt eine Ewigkeit.“ Dazu kamen die Investitionen: Bohrgerät, Baumaschinen, Werkstatt. Ihr erster Auftrag war Nagelfluh – verhärteter Kies, der so fies zusammenklebt wie Müsli mit Honig. Ein Teufelszeug, ganz schwer einzuschätzen. Bei der Sprengung ging der Nagelfluh zwar prima hoch, aber mit ihm auch ein angrenzender Betonweg. „Ich hab mich so geschämt. Ich habe kein Geld verlangt, die Gemeinde stellte auch keine Rechnung und kehrte die Sache unter den Teppich.“

Irgendwann machte sie in Gips, kaufte sich ein Bohrgerät: eine Sandvik Commando, zwei Jahre alt, 2850 Kilo, 37 kW. Mit dem Gips kam der Durchbruch. „Gips ist ein Teil meines Lebens“, sagt sie heute. Wenn es sein muss, holt sie mit einer Sprengung 2000 Tonnen raus. Im Idealfall so zerkleinert, dass die Stücke dann ohne weitere Bearbeitung in den Brecher können. Seit vier Jahren ist ihr Sohn Michael dabei. Es war eine schwere Entscheidung: Er war gerne Straßenbaumeister, andererseits träumte er schon lange davon, selbstständig zu sein. Als seine Mutter die vielen Aufträge kaum mehr alleine schaffte, sagte er schließlich : „I komm hoim.“ Die Narben am Hals hatte er schon vorher. Als neunjähriger Bub machte er ein paar Experimente mit Rasenmähersprit. Die Folge waren 25 schwere Operationen. Allein der Kunst der Ärzte verdankt er, dass man seinem Gesicht heute nichts mehr ansieht. Mutter und Sohn kennen sich in- und auswendig, jetzt auch als Team. Man muss nicht viel schwätzen bei der Arbeit.

Jeder Stein hat seinen Willen. Zerklüfteter Gips provoziert oft unsaubere Sprengungen, weil der Druck durch die unterirdischen Risse entweicht. Der harte Granit braucht viel Sprengstoff und doch eine sehr sensible Dosierung, weil er stark nachschwingt. Den komplizierten Nagelfluh liebt sie inzwischen und weiß ihn zu nehmen. Hildegard Merkle kommt auf jährlich 150 Sprengungen in ganz Deutschland. 3000 Mal hat sie es in ihrer Karriere schon krachen lassen. Das Geschäft boomt, mittlerweile kommt auch gut was rein dabei. „Aber es gibt keine Leerzeiten mehr, man kriegt den Kopf nicht mehr richtig frei“, sagt Merkle. Deshalb macht sie sich jetzt wieder kleiner und gibt regelmäßig Aufträge an Kollegen ab.

Das Fürsorgliche gehört zu ihr

„Mir gefällt’s im Dreck“, sagt sie. „Die typische Frauendenke hatte ich nie.“ Früher war sie manchmal unglücklich darüber, dass sie nicht in das gängige Muster einer Frau passt. Sie war immer die Schafferin. Ihre Eltern hatten einen Bauernhof und eine Wirtschaft, sie war von früh auf als feste Kraft eingeplant. „Ich weiß, was Kinderarbeit ist.“ Und so ging es weiter: Mit ihrem Mann hat sie eine alte Mühle umgebaut, ihm das Büro und den Haushalt geschmissen. Für ihren eigenen Betrieb kam ihr das Wuslige und Anpackende später sehr zugute. „Heute bin ich meinen Eltern und meinem Ex-Mann dankbar“, sagt sie. So habe sie nach und nach gelernt, dass sie auch an sich denken muss und nicht nur da ist, um anderen den Rücken zu stärken. „Man darf nicht aufgeben, auch wenn man scheiße dasteht. Man wächst immer höher mit seinen Aufgaben. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal dahin komme, wo ich heute stehe. Das hätte ich mir niemals zugetraut.“

Das Fürsorgliche gehört fest zu ihr. Für den Besucher im Steinbruch hat Hildegard Merkle ein Körbchen mit Verpflegung vorbereitet: Nüsse, Schoklädle, belegte Weckle. „Wollen Sie nicht doch was trinken?“, fragt sie fast schon besorgt. Sie verjagt jeden Hasen, der vor der Explosion zu nah an das Gefahrengebiet heranhoppelt. Die Mühe macht sich nicht jeder Sprengmeister.

Ihre Spezialität sind nicht die schlagzeilenträchtigen Fälle, eher die kleinen, kniffligen. Im Schwarzwald standen Häuser um einen Felsen, der weg sollte. Bei einer zu starken Erschütterung hätte Hidegard Merkle auch für Altschäden an den Gebäuden mit aufkommen müssen. Sie sprengte sanft und gut. Oder ein Felsvorsprung in Meßstetten: so zerfressen, dass er ins Tal zu stürzen drohte. Es war sehr steil. Unten verlief eine Landstraße, noch weiter unten erstreckte sich ein Industriegebiet. „Wir haben das Bohrgerät am Bagger und an Bäumen gesichert, arbeiteten mit zwei Fanggräben und einem Schutzwall. Der Fels wackelte beim Bohren, wir hatten alle Angst. Bei der Sprengung zerfiel dann alles zu kleinen Brocken. Da war ich ganz arg stolz.“

Wie lange kann ein Moment dauern?

Huflattich wächst aus der blanken Gipswand. Ein Schaufelbagger fährt vorbei, langsam, tief dröhnend und riesenhaft wie ein Urtier, eine dicke Gipskruste auf der Stahlhaut. Eine Hummel fliegt vorbei. Flieg schnell weiter, Hummel, das ist jetzt lebensgefährlich! Michael Merkle sitzt 150 Meter entfernt im Schutzraum an der Zündmaschine, wo alle Kabel zusammenlaufen. Seine Mutter steht oben am Waldrand, sichert das Gelände, hält Funkkontakt. „Alles gut? – Alles frei? – Okay.“ Dann klingt das Warnhorn wie der Schrei eines Fabelwesens. Dann ist Stille.

Gleich werden tausend Kubikmeter Gipsfels in Stücke gesprengt, und wer zu nah dran ist, dem platzt bestenfalls das Trommelfell. Alles still. Gleich werden da unten Steine zu Projektilen beschleunigt. Nur Stille jetzt. Es wird eine enorme Explosion geben, Rauch wird aufsteigen, giftig, schweflig, gelb. Wie schön die Stille sein kann. Man meint, sogar die Vögel hören auf zu singen, weil das jetzt nicht passt. Die Welt verlangsamt sich, wie betäubt vor einem chirurgischen Eingriff. Alles still in diesem Moment, alles ausgerichtet auf den großen Knall. Wie lange kann ein Moment dauern? Wie lange noch?