Berlin, Berlin, wir fahren nach.... Ein Schlachtruf, den Balletttänzer derzeit nicht anstimmen. Sie sorgen sich, dass der klassische Bühnentanz unter der designierten Intendantin Sasha Waltz am Berliner Staatsballett nicht mehr gefragt sein wird. Zu Recht?

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart / Berlin - Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger. Mit diesem Sinnspruch werden Wartende gern vertröstet. Acht Jahre dauerte es, bis dem Choreografen John Cranko mit der 1961 von ihm übernommenen Kompanie in Stuttgart ein international beachtetes Ballettwunder gelang. Auch Eric Gauthier, der sich 2007 vom Stuttgarter Ballett trennte, um eine eigene Kompanie aufzubauen, brauchte Geduld. Ein neues Festival, ein abendfüllendes Stück von Marco Goecke, mutigere Visionen fürs Repertoire statt ängstlichem Blick auf Zahlen? „Nach zehn Jahren sind meine Tänzer, mein Publikum und ich soweit, dass ich weiß: Jetzt können wir alles machen.“

 

Das sagt Eric Gauthier am Telefon in Berlin, wo er gerade mit zwei Tänzern des Berliner Staatsballetts (mit den ehemaligen Stuttgartern Elisa Carillo Cabrera und Mikhail Kaniskin) den Nachfolger seines Tanzhits „Ballet 101“ einstudiert. Wenig Verständnis hat er deshalb für die Entscheidung der Berliner Kulturpolitik, Nacho Duato, den aktuellen Intendanten des Staatsballetts, nach nur zwei Spielzeiten das Vertrauen zu kündigen. Wunder dauern bekanntlich etwas länger. Doch der Blick auf die Zahlen – sowohl die der Uraufführungen als auch die der Zuschauer, – hat den Berliner Senat und seinen Kulturstaatssekretär Tim Renner offenbar nicht erfreut und bewogen, frühzeitig die Bremse zu ziehen und mit einer weiteren ungewöhnlichen Personalie das Unmögliche sofort zu erledigen.

Tanztheater, rasant und jung

Irritiert schaut die Ballettwelt deshalb in diesen Tagen nach Berlin, wo die Choreografin Sasha Waltz gemeinsam mit ihrem schwedischen Kollegen Johannes Öhmann 2019 das Berliner Staatsballett übernehmen soll. Eine Künstlerin, die mit Stücken wie „Allee der Kosmonauten“ das Tanztheater rasant lebensnah und für ein junges Publikum zugänglich machte, an der Spitze der größten klassischen Ballettkompanie im Land? Die Kulturpolitik in der Hauptstadt hat sich bereits mit der Berufung eines Museumsmanagers zum Intendanten der Berliner Volksbühne nicht beliebt gemacht; im Sommer 2017 soll Frank Castorf von Chris Dercon abgelöst werden.

Auch die Staatsballett-Personalie lässt die Wogen hochgehen. So sagten die Tänzer ein für diesen Dienstag geplantes Treffen mit der neuen Intendantin ab. Die Kulturverwaltung verlangte von den Tänzern, Fragen an das neue Leitungsduo vorab vorzulegen, was verständlicherweise auf wenig Begeisterung stieß. Und so ließen die Tänzer mitteilen, dass sie es für sinnlos erachteten, mit jemandem zu sprechen, der bisher noch kein Konzept für die geplante Doppelintendanz präsentiert habe.

Waltz war auch in Stuttgart als Intendantin im Gespräch

Viel Unruhe und sogar Fluchtimpulse hatte der Name von Sasha Waltz bereits in Stuttgart ausgelöst, wo die Choreografin gerüchteweise als Nachfolgerin von Reid Anderson im Spiel war. Aber könnte in der Berliner Konstellation das Modell Sasha Waltz nicht funktionieren, das für Stuttgart abwegig schien? Die Stuttgarter Situation macht das Erbe John Crankos besonders und erfordert besondere Erfahrung. Auch ist die Kompanie mit 62 Tänzern weniger belastbar. Ähnlich sieht es Eric Gauthier, selbst wenn er das unschöne Abfertigen von Nacho Duato bedauert, der eben mit Gauthier Dance ein neues Stück einstudiert: „Für Stuttgart hatte ich bei Sasha Waltz gedacht: Nein, das geht gar nicht! Aber in Berlin – warum nicht?“ Zumal das Berliner Staatsballett mit knapp 90 Tänzerstellen die personellen Kapazitäten habe, um Klassisches und Modernes parallel zu platzieren. „Ich kenne Johannes Öhmann gut“, sagt Gauthier. „Er ist ein toller Ballettmeister und tanzt mit seiner Kompanie in Stockholm, die nur 55 Tänzer hat, ein breites klassisches Repertoire. Außerdem hat er Kontakte zu vielen wichtigen Choreografen auf seinem Handy.“

Balletttänzer, heißt es oft, können alles. Ihre Ausbildung ist so solide und umfassend, dass sie am Ende auch Akrobatisches wie Hip-Hop oder Ausdrucksstarkes wie Tanztheater nicht erschreckt. Wer die Stuttgarter Noverre-Abende kennt, wird zustimmen. Dort ist regelmäßig zu erleben, wie junge Choreografen, meist selbst Balletttänzer, ihren Kollegen die ganze Bandbreite zumuten. Das Bayerische Staatsballett haben Kritiker erst vor kurzem zur Kompanie des Jahres gewählt, weil sie sich als erste überhaupt an ein Stück Pina Bauschs gewagt hat und zeigte, dass die Kunst der Tanztheaterikone auch bei einer klassisch trainierten Kompanie funktioniert.

Steht die Öffnung des Balletts wieder in Frage?

„Was die Technik betrifft, kann jeder Balletttänzer auch die Schritte eines zeitgenössischen Tanzstücks ausführen, das hat viel mit der Verlagerung von Gewicht zu tun“, sagt Eric Gauthier und sieht das größte Handicap bei der inhaltlichen Beschäftigung mit einem Thema: „Ein klassisches Ballett dringt nicht so tief in ein Thema vor, wie ein Stück von Sasha Waltz oder Pina Bausch, die ja nicht nur den Körper, sondern den ganzen Menschen samt Seele bewegen wollen. Aber für meine Kompanie bin ich der Meinung, dass Tänzer alles anfassen und ausprobieren müssen.“

Verblüffend ist, dass diese Öffnung des Balletts nun wieder in Frage gestellt wird. Dass die Berliner Tänzer dies selbst tun, hat seinen Grund: Berlin war einmal eine Stadt mit drei großen Kompanien, zwei davon klassisch ausgerichtet; nach der Fusion 2004 zum Berliner Staatsballett ging von den insgesamt mehr als 210 Tänzerstellen mehr als die Hälfte verloren. Außer als Sparkuh, Sasha Waltz & Guests können davon ein Lied singen, wollen Berliner Politiker den Tanz jung und sexy. Vladimir Malakhovhat man das nicht zugetraut und dem Gründungsintendanten des Staatsballetts den Vertrag nicht verlängert. Auch seinem Nachfolger Nacho Duato gelang das erwartete Berliner Ballettwunder nicht schnell genug.

Der zweite Intendantenwechsel innerhalb kurzer Zeit verunsichert nun viele. „Als Ballettchef plant man die Zukunft und die Entwicklung von Tänzern“, sagt Eric Gauthier. „Aber die Tänzer sehen mit einem scheidenden Intendanten keine Perspektive mehr, alle laufen hier mit großen Fragezeichen auf der Stirn herum: Sollen sie die nächsten drei Jahre hart arbeiten für eine bessere Position in der Kompanie oder sind sie dann raus?“

Der Frust der Berliner Tänzer ist verständlich

So entlädt sich der Frust der Berliner Tänzer nun ausgerechnet gegenüber einer Künstlerin und einer Konstellation, die ihnen viele Türen öffnen könnte. Dass in Berlin auch nach 2019 Bühnentanz im herkömmlichen Sinn dominieren wird, also von klassisch über neoklassisch bis hin zu aktuellen Positionen, scheint in dieser Situation keiner hören zu wollen: Mehr als ein Stück von Sasha Waltz pro Saison, inklusive Neukreationen, will den Tänzern des Berliner Staatsballetts niemand zumuten. So blieb Waltz und Johannes Öhmann kein anderer Weg, als sich in einem offenen Brief an ihr zukünftiges Ensemble zu wenden: „Der Berliner Senat ist der Überzeugung, dass das Staatsballett Berlin ein zukunftsweisenderes Repertoire spielen soll. Um diesem Auftrag nachzukommen, haben wir vorgeschlagen, dass das Staatsballett Berlin einen Sprung in die Zukunft wagen muss – um eines der führenden Repertoire-Ensembles in Europa zu werden. Als neue Intendanz des Staatsballetts Berlin ab 2019 werden wir das klassische Erbe pflegen und gleichzeitig Neukreationen der besten heutigen Choreografen erarbeiten, sowohl klassische als auch zeitgenössische.“ Viel Porzellan ist zerschlagen. Wie der Berliner Kulturpolitik das Unmögliche gelingen soll, nämlich das Vertrauen ihrer Künstler zurückzugewinnen, ist ein Wunder, das wahrscheinlich länger dauern wird.