Jahrhundertlieder zu schreiben – das hatte der posthum heftig verehrte Songwriter Nick Drake von seiner Mutter Molly gelernt. Deren ganz und gar nicht unscheinbare Songs interpretieren die Unthanks jetzt neu: ein kleines Ereignis.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Wenn sie mit Musik ihr bisschen Blech ein wenig besser verkaufen kann, ist die Autoindustrie noch nie zögerlich gewesen, und so zeigte der Volkswagenkonzern im Jahr 2000 in der Werbung, dass ein paar leicht gelangweilte Kids im neuen Firmen-Cabrio eine Party sausen lassen, weil ihnen so hübsch der Mond am Himmel einen anderen Weg leuchtet. Nebenher beziehungsweise darunter lief „Pink Moon“ von Nick Drake, ein Lied, schwarz wie die Nacht, ein Vierteljahrhundert alt schon damals. Drake hatte es seinerzeit mit ein paar anderen Abschiedsliedern für sein drittes und letztes Album gleichen Namens aufgenommen, ließ die Tonbänder ohne Kommentar beim Hausmeister in London liegen, schloss die Studiotür hinter sich und ging heim zum Sterben: im Jugendzimmer bei seinen Eltern in Tanworth-in-Arden in der Nähe von Birmingham.

 

Drake war schwer depressiv, wie man damals schon ahnte und heute (nach Patrick Humphries‘ nicht ins Deutsche übersetzter Biografie) sicher weiß. Drei Alben also nur als Nachlass – „Five Leaves Left“, „Bryter Later“ und eben „Pink Moon“ – aber wenn man sagen sollte, wer wohl am ehesten der Franz Schubert des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sein könnte, dann müsste, bei allen Geschmacksunterschieden, wohl ziemlich bald der Name Nick Drake fallen.

Hausmusik mit Mozart

Als immer mehr Musiker von Rang ungefähr diese Meinung vertraten und bis heute dafür einstehen, wenn sie nach Vorbildern gefragt werden, wollte die Musikindustrie dann doch noch einmal am Nachruhm partizipieren, wo sie zu Drakes Lebzeiten (1948-1974) nur ein paar tausend Platten losgeworden war. Und es erschienen nicht nur die CDs im Paket („Fruit Tree“), sondern auch, lanciert von der Schwester Drakes, Gabrielle, ein paar Takes aus dem Wohnzimmer der Drakes, Hausmusik, mitgeschnitten vom Vater. Zu hören sind Mozarts munteres Kegelstatt-Trio, KV 498, aber auch schon ein Stück, das sich anhört, als wolle demnächst „Day is done“ daraus werden, eines der Drake-Lieder, das keiner je vergessen wird, der es einmal gehört hat. Die Zusammenstellung nannte sich „Family Tree“, aber die komplette Drake-Geschichte war das noch nicht.

In ihrer Eigenwilligkeit richtig erschlossen haben sich Drakes harmonisch versponnene, mystische und grundmelancholische Songs erst, als vor drei Jahren ein weiteres Tonband auftauchte (erschienen bei Squirrel Thing), mit 19 Eigenkompositionen von seiner Mutter, Molly Drake, 1915 in Burma geboren, wo auch Nick Drake zur Welt gekommen ist. Bekannt war eine kurze Episode, die Molly Drake im Duett mit ihrer ebenfalls singenden Schwester Nancy nach dem zweiten Weltkrieg bei All India Radio als Sängerin hatte. Aber der Ton der Aufnahmen aus Tanworth, UK, wohin die Familie Drake Anfang der sechziger Jahre gezogen war, ist ein anderer: Molly Drake, die sich selbst am Klavier begleitet, spiegelt bereits, was die Lieder ihres Sohns später so einzigartig werden lässt. Formal geschlossen, halten sie Stand in einer Welt, deren Wirrnisse die Musikerin oft zweifeln (und selten nur noch lachen) lassen. Aber: „What can a Song do for you?“, fragt Molly Drake dennoch mit einer Stimme, die wie die Freundlichkeit selber klingt. Und antwortet: Das Lied ist der Schlüssel überhaupt: zum Leben, zum Lieben. Und, ja, zum Sterben auch.

Unthanks als Verbindungsstück

Es war dann eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Gruppe The Unthanks aus Northumberland, deren singende Protagonistinnen Rachel und Becky Unthanks eine „große Schwäche“ (Rachel Unthanks) fürs Melancholische haben, sich diesen Songs von Molly Drake widmen würden, ohne deren Vorbildcharakter manches nicht denkbar ist, was der Sohn sich ausdachte. „The Songs and Poems of Molly Drake“ ist, arrangiert von Rachel Unthanks Ehemann Adrian McNally, einerseits ein wunderbares Kammermusikfolkalbum (mit dominanter Klarinette, Molly Drakes Lieblingsinstrument), und andererseits das Gegenteil der geschilderten Fledderei ohne jeden Respekt. Es hört sich vielmehr so an, als hätten Molly Drakes Lieder, die, wie gesagt, auch irgendwie schon Nick Drakes Lieder sind, nur darauf gewartet, von den Unthanks gesungen zu werden. Sie sind das Verbindungsstück, das gefehlt hat.

So schließt sich, wenn die Schwester Gabrielle nun noch einmal die Gedichte der Mutter rezitiert, endgültig ein Kreis. Molly Drake, die - wie auch? – den Tod ihres Sohnes, dem im Leben nicht zu helfen war, nie verwunden hat, starb 1993. Auf dem Familiengrabstein stehen Worte von Nick Drake: „And now we rise and we are everywhere“. Steigen und überall sein. Nicht zufällig antwortet jetzt ein Gedicht und Lied von Molly Drake, „Happiness“, indem sie auf das Glück schaut, das sehr flüchtig sei, wie die Vögel: man müsse, geht die Zeile, es fangen, solange es fliegt.