Die Wagenhallen sind geräumt, die Mitglieder des Kunstvereins arbeiten nun in einer Containerstadt: Ein Dschungel aus Kunst und Happening am Nordbahnhof, der sich am Samstag mit Musik, Stockbrot und Minigolf dem Publikum öffnete.

Stuttgart - Hinter den Bauzäunen liegt die Hallenanlage, verlassen; davor Berge von Schutt und Gestein. Auch diesseits der Zäune wirkt vieles noch unfertig. Zumindest zwei Jahre lang wird der größere Teil der Künstler, die im Kunstverein Wagenhalle organisiert sind, in diesen arbeiten, die verstreut und verbunden auf dem Platz vor den Hallen stehen. Das große Gelände überblicken können die Besucher des Container-Open am Samstag in einer dieser Boxen. Michael Casertano, Architekt des verantwortlichen Büros Atelier Brückner, stellt dort das Konzept der Sanierung vor: Pläne, Modelle der neuen Wagenhallen.

 

Ihr Gegenstück haben sie im großen Faltblatt, das draußen, in der Container-City, zu haben ist. Die Halle selbst ist auf diesem Plan nur eine rechteckige Fläche, gefüllt mit Text. Vor ihr, gar nicht rechteckig, wuchert das kreative Provisorium. Auch in der Container-Stadt begegnen die Besucher Bergen – aus Schrott, aus Abfällen, die darauf warten, zu Kunstwerken zu werden. Ein stacheliger Dom steht da, in dem am späten Abend ein Konzert stattfinden wird; Knäuel aus Draht, Beton, Holz und Kunststoff, in denen geschnitzte Gesichter sitzen.

Die Container-City beginnt an diesem Tag schon dort, wo sich einst der Zugang zum Veranstaltungsbetrieb der Wagenhallen, dem Nachbarn des Kunstvereins, befand. Ein erstes Schild weist darauf hin, dass das Areal vor den Wagenhallen nun „Kunstschutzgebiet“ ist. Das Bureau Baubotanik, einer der Kreativbetriebe der Wagenhallen, setzt um 16 Uhr eine Probebohrung und schießt einen symbolischen Minigolfball ins Bohrloch; zugleich eröffnet das Theater Rampe sein Projekt „Theater of the long now“ in der ersten Spielzeit.

Geboren aus existenzieller Raumnot

„Dieses Theater“, erklärt Martina Grohmann, Intendantin der Rampe, „führt sich selbst auf.“ Über 100 Jahre soll sich das hinziehen, auf der Bühne eines künstlichen Brachlandes, auf dem Pflanzen, Metall, eine Schildkröte, Wind, Wetter und Kostendruck als Darsteller agieren. Kein ganz ironiefreies Projekt, das sich mit Wandel, Prozess, Ökonomie beschäftigt – Themen, denen die Besucher der Container-City wieder begegnen werden, denn die Künstlerstadt will sehr viel mehr sein als ein ausgeflippter Kreativzirkus im Herzen Stuttgarts. „Aus existenzieller Raumnot geboren, ist die Container-City vielleicht so etwas wie ein Transformmotor zur Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der Stadt, insbesondere des Wagenhallen-Areals“ – das sagt Robin Bischoff, Vorstand des Kunstvereins, um 14 Uhr zur Eröffnung der Container-Party.

Der rote Faden, der durch das Labyrinth der vielen Boxen führt, ist der Minigolfparcours – zwei Künstler der Akademie Schloss Solitude erdachten das Konzept; 15 Künstler der Wagenhallen schlossen sich ihnen an und schufen ihre eigenen, sehr ungewöhnlichen Minigolfbahnen.

Im Herzen der Container-Stadt gibt es einen Marktplatz, dort isst man Süßkartoffel-Pommes, Stockbrot und Gerichte aus dem Foodsharing-Imbiss. Und dort versuchen Minigolfer nun, ihren Ball über eine Bahn aus Wellblech zu schießen. Anderswo ist das Ziel das Innere eines riesigen rostigen Grammofontrichters, oder der Spieler soll den Spalt zwischen zwei Popobacken aus Pappmaché ins Visier nehmen und wird, so er denn trifft, mit einer großen Rauchwolke belohnt.

Treffsicherheit beim Minigolf

Jean-Baptiste Joly, Leiter der Akademie Schloss Solitude, eröffnete gemeinsam mit Stephan Karle, Geschäftsführer des Unternehmens Karle Recycling, und Gerd Dieterich vom Kulturamt Stuttgart den Minigolfparcours mit einem ersten Anschlag. Joly ist danach kaum zufrieden mit seiner Treffsicherheit, aber damit nicht alleine: Die Präzisionssportart, entstanden erst in der Nachkriegszeit, war schon immer für viele ein Quell mehr oder weniger leiser Verzweiflung. Hunderte von Menschen gehen am Samstag in der Container-Stadt umher; an jeder Ecke hebt einer einen Schläger und versucht sein Können.

Drum herum bleibt den Besuchern der Stadt viel Zeit, sich zu verlieren – beim Umherschweifen, beim Blick in die Container, die Ateliers, in denen Erstaunliches wartet: Die großen Gliederpuppen zum Beispiel, die „Dundus“, die Tobias Husemann bei den Wagenhallen baut. Zweimal werden die fantastischen Geschöpfe aufbrechen und durch die Container-Stadt wandern – eine von ihnen, glitzernd von Kopf bis Fuß, muss noch zu Hause bleiben: „Sie bekommt erst ihre Gelenke, und ihr Rücken ist noch beim Schlosser.“

Schließlich eröffnet mit der Rosensteinalm der „temporäre Bauernhof“ der Wagenhallen-Künstlerin Gabriela Oberkofler: Auch bei ihr geht es um Ökonomie, um nahe Wege, städtisches Miteinander, um einen Gegenentwurf zu den Shopping-Malls, die sich im Stadtgebiet angesiedelt haben.

Die Rosensteinalm versammelt sehr kompakt unterschiedliche Elemente eines landwirtschaftlichen Betriebs – unterm Dach die Strohballen, hinterm Haus die freilaufenden Hühner. Sie soll, mit eigenem Veranstaltungsprogramm, zu einem Schnittpunkt zwischen Container-City und städtischer Umgebung werden. Zunächst einmal, am Samstagabend, nimmt vor der blumengeschmückten Fassade der Alm jedoch Nora Gomringer Platz, Lyrikerin, Bachmannpreisträgerin, und liest ihre überschäumend persönlichen Gedichte, dem Wind, der die Seiten umwendet, den Wolken, die am Himmel kauern, zum Trotz. Eine kleine Fliege kommt dabei zwischen die Blätter voller Poesie. „Das tut mir sehr leid“, sagt die Dichterin mit aufrichtigem Bedauern, „draußen lesen fordert Opfer!“