Im Wawilow-Institut in Sankt Petersburg überlebte die Alblinse, die hierzulande einst verloren gegangen war. Ein Besuch bei den russischen Wissenschaftlern.

St. Petersburg/Stuttgart - Die Stadt leuchtet, im frostigen Blau glänzen die Kuppeln. Die ganze, jüngst restaurierte Pracht der Zarenzeit wird sichtbar. Auf den Boulevards flanieren die Sankt Petersburger, als wären zehn Grad minus nichts. Der Krieg ist weit weg. „Die Krim ist unser“, heißt es hier und da, aber nur, wenn ich danach frage.

 

Xenia, die junge Dolmetscherin, kennt die Stadtpaläste am Mojka-Kanal nahe der Isaak-Kathedrale. Zwei einander gegenüber liegende Bauten im florentinischen Stil, die seit 1921 das Institut für Pflanzenindustrie beherbergen, benannt nach Nikolai Iwanowitsch Wawilow, dem großen Biologen, der als einer der Ersten das Schwinden der Artenvielfalt bemerkte und sich darum sorgte. Auf dem Platz davor das Denkmal von Nikolai I. hoch zu Ross, jenes Zaren, der Schwiegervater von Karl III., König von Württemberg, war. „Karl?“, ruft Xenia entgeistert, als ich erzähle, er habe seine Ehefrau, die Zarentochter Olga, mit jungen Männern betrogen.

Es gibt heute Wichtigeres zwischen Russen und Württembergern. „Sie kommen aus Stuttgart?“, fragt der bärtige Herr, der uns willkommen heißt. Aus meiner E-Mail vom Sommer weiß Professor Loskutow, was mich interessiert: die „schwabkaja Tschetschewiza“. Diese schwäbische Linse sei zwar nicht sein Spezialgebiet, aber er ist zuständig für ausländische Gäste, weil umfassend geschichtskundig: „340 000 Samen haben wir gesammelt, über die Jahrzehnte, aus allen Erdteilen.“

Loskutow geht darum, die Schöpfung zu bewahren

Kaum haben wir die herrschaftliche Treppe erklommen, nehmen wir die Düfte wahr: von Getreide vor allem und feuchtem Grün, das von den Topfpflanzen herrührt, die dschungelartig die Flure bevölkern. Tür um Tür öffnet der Wissenschaftler, die erste führt in sein eigenes Reich. Ein Riesensaal mit hohen Regalen, bestückt mit Blechkästchen, in denen Hafersamen lagert. „Avena“, so der botanische Name, etwa 3000 Sorten. „Wozu braucht man Hafer nach dem Ende des Pferdezeitalters?“ Loskutows Stimme hebt sich: „Kinderbrei. Gesunde Ernährung.“ Die Veganer, lobt er, „sind große Haferfreunde“. Alle drei Jahre müsse jede Sorte wieder ausgesät werden, um sie zu erhalten: ernten, reinigen, selektieren, trocknen – eine Mühe. Bei Gefrierlagerung müsste jede Sorte nur alle zehn Jahre dieser Prozedur unterzogen werden, doch es ist zu wenig Geld da, Kühlkammern für die komplette Sammlung zu bauen. Nicht allein der Nutzen sei wichtig, erzählt Loskutow. Es gehe um die Schöpfung. Darum, sie zu bewahren, für alle zugänglich zu halten.

Jeder, der Samen anfordert, bekommt ihn kostenfrei. Selbst Saatgut-Konzerne, die der Artenvielfalt den Garaus machen wollen, werden bedient. „So war es von Anfang an und in der ganzen Sowjetzeit.“ Mitten im Kalten Krieg hat man US-Farmern per Post ein Tütchen Sojabohnen zugeschickt. Er greift nach einer der braunen Papiertüten: „Avena Wawiloriana“, eine robuste Sorte aus dem äthiopischen Hochland, die der große Biologe Wawilow höchstselbst 1927 gesammelt und wissenschaftlich beschrieben hat. In den 1980ern, als nach der Hungersnot die Landwirtschaft daniederlag, hat man für Äthiopien ein ganzes Paket mit alten Sorten gepackt –Getreide, Hülsenfrüchte, Kaffee.

Auf acht Billionen Dollar hat die Weltbank den Wert der Sammlung geschätzt. Eine Schatzkammer, in der vieles im Argen liegt: abgewetztes sowjetisches Mobiliar, defekte Computer, die Bibliotheksregale sind noch aus der Zarenzeit. Der Mangel wird durch sorgfältige Pflege ein wenig kaschiert. Im einstigen Arbeitszimmer von Iwanowitsch Wawilow ist alles blitzsauber, vor seinem Schreibtisch blüht eine rote chinesische Rose. Das kleine Museum erzählt von seinen Expeditionen durch die Welt. 56 waren es, unter anderem auf die Schwäbische Alb. In Vitrinen exotische Samen, verblichene Fotos. Eines zeigt ihn, irgendwo im Dschungel, mit seiner zweiten Frau Elena, einer Spezialistin für Linsen.

In Wirtschaftswunderzeiten ausgestorben

Margarita Vishnyakowa wartet bereits. Die Leiterin der Abteilung Hülsenfrüchte, inbegriffen 2300 Linsensorten, glüht vor Freude.

Margarita Vishnyakowa Foto: Ulla Lachauer
„Stuttgart? Wie geht es der Alblinse? Und Mammel? Ist er gesund?“ Und schon sind wir mittendrin in der schwäbisch-russischen Geschichte, die sich vor sieben Jahren zugetragen hat. Margarita Vishnyakowa hat Zeitungsartikel von damals herausgesucht.

In Schwaben kennen Pflanzenfreunde die Geschichte: Im Mittelpunkt steht ein Bioland-Bauer aus Lauterach namens Woldemar Mammel. Er hat 1985 die uralte Tradition des Linsenanbaus wiederaufgenommen. Einer Feldfrucht, die auf den steinigen Äckerle im rauen Klima der Alb gut wächst, deren Anbau allerdings mühselig ist. Man muss sie stützen (mit Hilfe von Gerste oder Hafer), Nässe verträgt sie gar nicht. Da die beiden regionalen Sorten, gezüchtet von dem Haigerlocher Landwirt Fritz Späth, in  Wirtschaftswunderzeiten ausgestorben waren, nahm Mammel französisches Saatgut aus der Bergregion Le Puy. Doch er gab die Hoffnung nicht auf, eines Tages irgendwo Reste der Späth’schen Linsen zu finden.

Im Jahr 2006 hörte ein gewitzter Stuttgarter Pressemann, Klaus Amler von Ökonsult, davon, und machte sich auf die Suche. Ein Pflanzensammler, Klaus Lang aus Wolfegg, tat desgleichen. Landeszuchtanstalt Hohenheim? Fehlanzeige! Im Bundesinstitut für Pflanzengenetik Gatersleben dito. Amler kontaktierte die Genbank im syrischen Aleppo, dort hat die Welternährungsorganisation alte Linsensorten gesammelt. Nichts! Eines Nachts um halb drei entdeckte er zufällig beim Surfen die englischsprachige Website des Wawilow-Instituts. „Lens culinaris Nr. 2076. Spaths Alblinse I“, stand da im Verzeichnis, unter der Nr. 2106 „Spats Alpenlinse II“. Heureka! Das mussten sie sein!

Ein Glanzpunkt in ihrem Berufsleben

Um dieses Wunder zu würdigen, flogen sie nach Sankt Petersburg. Mammel und neun weitere Linsenbauern, Klaus Amler und Vertreter von Slow Food schlossen sich an. Es wurde eine rauschende, wodkaselige Feier, zu der sogar der deutsche Vizekonsul erschien. Professorin Vishnyakowa staunt darüber heute noch: „Das ist in der Geschichte unseres Instituts einmalig, dass Saatgut persönlich abgeholt wurde.“ Die „Repatriierung“ der Alblinse ist ein Glanzpunkt in ihrem Berufsleben. „Und dann haben sie mich 2009 eingeladen.“ Auf der Alb konnte sie sehen, was aus der Handvoll Linsen, 250 an der Zahl, die das Institut verschenkt hatte, geworden ist. Es sei nicht einfach, Samen aus dem Schlaf zu wecken, zu vermehren, neu zu akklimatisieren: „Damals wurden sie noch in Töpfen gehegt.“

Ich erzähle, dass die Linsen inzwischen auf 230 Hektar angebaut werden. Und so begehrt sind, dass die Erzeugergemeinschaft Alb-Leisa mit dem Anbau nicht nachkommt und das Arme-Leute-Essen von einst in den Olymp der Haute Cuisine aufgestiegen ist, gepriesen von Sterneköchen wie dem Stuttgarter Vincent Klink. Auf der Speisekarte seines Restaurants stehen zum Beispiel Linsen mit Salm.

Wie sind die Späth’schen Alblinsen eigentlich ins Wawilow-Institut gelangt? So ganz genau kann es die alte Dame nicht erklären. Aus Wawilows schwäbischer Expedition jedenfalls stammen sie nicht. Erst 1963 und 1965 sind die Linsen eingegangen, und zwar aus Genbanken in Ungarn und der Tschechoslowakei. Ein Routinevorgang – die Staaten des Warschauer Paktes lieferten Dubletten ihres Saatguts hierher, das Institut war damals die zentrale Genbank der sowjetischen Welt. Und wie kamen sie von der Alb nach Osteuropa? Nach 1945, so viel ist sicher. Auf welchen Wegen sie durch den Eisernen Vorhang gelangten, liegt im Dunkeln. Vielleicht Stoff für einen Krimi.

Weltumspannendes Netzwerk

In unser Gespräch über Linsen mischt sich immer wieder ein anderes Thema: der Überlebenskampf des Instituts. Seit dem Ende der UdSSR ist seine Existenz bedroht. Unterfinanzierung, Stellenabbau, jedes Jahr wird es schlimmer. „Welcher junge Biologe will für 300 Euro im Monat arbeiten?“ Mal soll das Institut die beiden Stadtpaläste verlassen, weil ein Oligarch ein Auge auf sie geworfen hat. Mal sind die Versuchsfelder am Rande von St. Petersburg gefährdet. Anfang der 1990er hat man sie mit Knüppeln gegen Mundräuber verteidigt. Heute kämpft man gegen die Stadt, die Bauland braucht – die letzte Schlacht hat man mit Hilfe von Cary Fowler, dem Direktor des Global Crop diversity Trust, gewonnen, der sein weltumspannendes Netzwerk mobilisierte. „Grüßen Sie Mammel und alle!“, sagt Margarita Vishnyakowa beim Abschied.

Zurück aus der leuchtenden Stadt, im grauen Stuttgart, rufe ich Woldemar Mammel und Klaus Amler an. „Ach, die Margarita!“ Die Sankt Petersburger Begegnung, scheint mir, hat den Bauern wie den Pressemann schwer beeindruckt. Sie erinnern sich, wie sie im Dezember 2007 mit bangem Herzen losflogen. Nachdem sie sich vorher im Internet über die Geschichte der Stadt schlau gemacht hatten, erfahren hatten, dass Hitlers Armee Leningrad, wie sie seinerzeit hieß, 900 Tage belagerte und währenddessen eine Million Einwohner verhungerten. Auch Wissenschaftler des Wawilow-Instituts – sie verteidigten ihre Schätze, Kartoffeln, Getreide, Erdnüsse gegen die Hungernden. Derweil der in Ungnade gefallene Nikolai Iwanowitsch Wawilow im fernen Saratov im Gefängnis saß und dort, 1943, an Hunger starb.

Mit dem Begriff „Ehrfurcht“ beschreibt Klaus Amler sein Gefühl. „Mit so viel Freundlichkeit haben wir nicht gerechnet“, sagt Mammel. Auf dem Boden einer tragischen Geschichte ist eine Freundschaft entstanden, es gibt gemeinsame Fragen im Heute wie: Brauchen wir eine Supergenbank in Spitzbergen (Cary Fowlers Traum)? Oder mehr regionale „Genbänkle“ (Woldemar Mammels Traum)?

Netzwerke wachsen den neuen Kriegen zum Trotz. Die Schwäbische Alb und Sankt Petersburg sind miteinander verbunden. Im syrischen Aleppo hat kürzlich die Internationale der Artenschützer geholfen, eine Genbank zu evakuieren. „Wenn das Wawilow-Institut in höchster Gefahr ist, werden wir dorthin fahren“, versichert Mammel.